Undank Ist Der Väter Lohn.
die man nicht unbeachtet lassen konnte, ohne das Wohlbefinden zu gefährden. Und als die Ärzte und die Spezialisten ihre Untersuchungen abgeschlossen, ihre Diagnosen überprüft und schließlich mit einer aufreizenden Mischung aus Faszination, Verlegenheit und Hilflosigkeit die Achseln gezuckt hatten, waren die Psychiater an Bord gekommen, um Kurs auf die unbekannten Gewässer von Andys Seele zu nehmen. Einen Namen gab es nicht für das, was ihm fehlte, nur Erklärungen, daß manche Menschen eben auf gewisse Erlebnisse und Erfahrungen mit körperlichen Symptomen reagierten. Während er also Stück für Stück zu zerbrechen drohte, war die Beichte für ihn das einzige Mittel, sein Leben immer wieder neu in Ordnung zu bringen, durch einen Akt innerer Reinigung sein wahres Ich wiederzufinden. Letztlich jedoch reichten alles Tagebuchschreiben, Analysieren, Diskutieren und Beichten nicht aus, um ihn ganz gesund zu machen.
So bedauerlich das im Hinblick auf seine Arbeit auch ist, es ist Ihrem Mann einfach unmöglich, ein dichotomies Leben zu führen, hatte man Nan schließlich erklärt, nachdem sie jahrelang einen Arzt nach dem anderen aufgesucht hatten.
Was? hatte sie gefragt. Dichotom – was soll das heißen?
Andrew kann kein Leben voller Widersprüche leben, Mrs. Maiden. Er kann nicht spalten. Er ist nicht in der Lage, eine Identität anzunehmen, die seiner grundlegenden Persönlichkeit widerspricht. Dieser Zwang, immer wieder andere, wesensfremde Identitäten anzunehmen, scheint der Grund für die Störungen seines Nervensystems zu sein. Jemand anderer fände ein solches Leben vielleicht aufregend – ein Schauspieler zum Beispiel oder, im anderen Extrem, ein Soziopath –, aber bei Ihrem Mann ist das nicht so.
Aber ist das denn nicht einfach eine Art Maskerade? hatte sie gefragt. Wenn er verdeckt arbeitet, meine ich.
Die mit ungeheurer Verantwortung verbunden ist, hatte man ihr geantwortet, und mit ungeheuren Risiken und Kosten.
Zu Anfang hatte sie sich glücklich geschätzt, mit einem Mann verheiratet zu sein, der nur der sein konnte, der er wirklich war: der nicht fähig war zu lügen, zu täuschen, etwas vorzugeben, das nicht Ausdruck der Wirklichkeit war, wie er sie kannte und erlebte. Und in den Jahren seit seinem Ausscheiden aus dem Yard hatte Andy diese Realität gelebt und war dabei gesund und glücklich gewesen. Die Zukunft, die sie sich in Derbyshire aufgebaut hatten, hatte alle Lügen und Täuschungen, die er in der Vergangenheit zu einem Teil seines Lebens hatte machen müssen, ausgelöscht.
Bis jetzt.
Sie hätte es eigentlich merken müssen, als Christian-Louis in der Küche die Tannenzapfen verbrannt hatte und Andy den Geruch, der tagelang im Haus gehangen hatte, überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Da hätte sie merken müssen, daß etwas nicht in Ordnung war. Aber sie hatte es nicht gemerkt, weil so viele Jahre lang alles gut gewesen war.
»... kann nicht sagen ...« murmelte Andy im Bett.
Nan beugte sich begierig vor. »Was?« flüsterte sie.
Er drehte sich von ihr weg und grub seine Schulter ins Kopfkissen. »Nein.« Er sprach im Schlaf. »Nein. Nein.«
Nan traten die Tränen in die Augen, während sie ihn beobachtete. Sie ließ in Gedanken die letzten vier Monate an sich vorbeiziehen in dem verzweifelten Bemühen, irgend etwas zu finden, was sie vielleicht hätte tun können, um dieses Ende abzuwenden, das sie erreicht hatten. Aber ihr fiel nichts ein, außer daß sie den Mut und den Willen hätte haben sollen, Ehrlichkeit zu verlangen, doch das war keine realistische Möglichkeit gewesen.
Andy wälzte sich wieder auf die andere Seite. Er klopfte sein Kissen flach und warf sich auf den Rücken. Seine Augen waren geschlossen.
Nan stand auf und ging zum Bett, setzte sich nieder. Behutsam strich sie ihrem Mann mit den Fingerspitzen über die Stirn. Seine Haut war feucht und heiß. Siebenunddreißig Jahre lang war er der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, und sie würde nicht zulassen, daß ihr dieser Mittelpunkt im Herbst ihres Lebens noch geraubt wurde.
Aber noch während sie diesen Entschluß faßte, war sie sich bewußt, daß ihr derzeitiges Leben voller Ungewißheiten war. Und es waren diese Ungewißheiten, die ihr Alpträume bereiteten, ein weiterer Grund, warum sie den Schlaf mied.
Es war kurz nach ein Uhr morgens, als Lynley seine Haustür aufsperrte. Er war erschöpft und tief bedrückt. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sein Tag in Derbyshire begonnen hatte, und noch
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