Undank Ist Der Väter Lohn.
leiden, werden sie falsche Signale aussenden. Und die Polizei wird diese Signale falsch interpretieren. Das Gerät wird sagen, daß deine Körperfunktionen nicht in Ordnung sind. Die Polizei wird es anders nennen.«
Sie werden es Schuld nennen. Der Satz hing unausgesprochen zwischen ihnen. Nan hatte plötzlich den Eindruck, daß sie und ihr Mann sich auf zwei verschiedenen Kontinenten befanden. Sie hatte das Gefühl, daß sie diesen trennenden Ozean zwischen ihnen erschaffen hatte, aber sie konnte es nicht riskieren, seine Größe zu verringern.
Andy sagte: »Ein Polygraph mißt Körpertemperatur, Puls und Atmung. Da wird es keine Probleme geben. Mit Nerven hat das nichts zu tun. Ich will den Test machen.«
»Aber warum denn nur?«
»Weil es die einzige Möglichkeit ist.« Er legte den Brief auf die Schreibplatte und glättete ihn. Er zeichnete die Wörter »Liebster Daddy« mit dem Zeigefinger nach. »Ich habe nicht geschlafen«, sagte er zu ihr. »Ich habe versucht zu schlafen, aber ich konnte nicht, weil ich so außer mir darüber war, daß meine Augen plötzlich so nachließen. Sag mir, warum du ihnen erzählt hast, du hättest nach mir gesehen, Nancy?« Er sah auf und hielt ihren Blick mit seinem fest.
»Ich habe dir was zu essen gebracht, Andy«, sagte sie mit vorgetäuschter Munterkeit. »Da muß doch etwas dabei sein, das dich reizt. Wie wär’s mit einem Stück Baguette mit Leberpastete?«
»Nancy, antworte mir. Bitte sag mir die Wahrheit.«
Aber das konnte sie nicht. Sie konnte es einfach nicht. Er hatte sie gezeugt. Er hatte sie aufwachsen sehen. Er hatte jedes Briefchen aufgehoben, jedes Wort in seinem Herzen bewahrt. Er hatte ihr durch Kinderkrankheiten und jugendliche Rebellion hindurchgeholfen, eine Erwachsene zu werden, auf die er so ungeheuer stolz gewesen war. Wenn also die Chance bestand – auch nur die geringste Möglichkeit –, daß sein körperlicher Zustand nichts mit Nicolas Tod zu tun hatte, dann würde sie ihr Leben an diese Chance knüpfen. Und auch ihren Tod, wenn nötig.
»Sie war wunderbar, nicht wahr?« flüsterte Nan und zeigte auf die Andenken an Nicola, die ihr Mann auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. »War unsere Tochter nicht ein wundervoller Mensch?«
Vi Nevin war nicht allein in ihrem Zimmer, als Barbara Havers im Chelsea and Westminster Hospital ankam. An ihrem Bett saß, den Kopf in die Matratze gedrückt wie eine demütige Bittstellerin zu Füßen einer Göttin, eine junge Frau mit orangenrotem Haar und spindeldürren Gliedern. Sie hob den Kopf, als die Tür hinter Barbara zufiel.
»Wie sind Sie hier reingekommen?« Sie sprang auf und baute sich in Abwehrstellung vor dem Bett auf. »Der Bulle da draußen hat Anweisung, niemanden reinzu –«
»Regen Sie sich ab«, sagte Barbara und kramte ihren Ausweis aus ihrer Umhängetasche. »Ich gehöre zu den Guten.«
Die Frau kam vorsichtig näher, riß Barbara den Ausweis aus der Hand und las, ihre Aufmerksamkeit halb auf die Karte gerichtet, halb auf Barbara, für den Fall, daß diese einen Überraschungsangriff planen sollte.
Die Patientin im Bett hinter ihr bewegte sich. Sie murmelte:
»Ist schon okay, Shell. Ich kenne sie. Sie war neulich mit dem Schwarzen bei mir. Du weißt schon.«
Shelly, die erklärte, sie sei Vis beste Freundin und entschlossen, bis ans Ende ihrer Tage für Vi zu sorgen, reichte Barbara den Ausweis zurück und setzte sich wieder auf ihren Stuhl am Bett.
Barbara wühlte in ihrer Tasche, fand einen Notizblock und einen angeknabberten Kugelschreiber und zog den anderen Stuhl im Zimmer herum, so daß sie und Vi Nevin einander sehen konnten. Sie sagte: »Tut mir leid, daß es Sie so erwischt hat. Ich hab vor ein paar Monaten selbst so was erlebt. War eine scheußliche Sache, aber ich konnte wenigstens sagen, wer der Schläger war. Können Sie das auch? Woran erinnern Sie sich?«
Shelly Platt ging zum Kopfende des Betts, umfaßte Vi Nevins Hand und begann, sie zu streicheln. Barbara fand ihre Anwesenheit so irritierend wie einen plötzlichen starken Juckreiz, aber der jungen Frau im Bett schien sie ein Trost zu sein. Na schön, wenn’s ihr hilft, dachte Barbara und zückte ihren Kugelschreiber.
Von Vi Nevins verbundenem Gesicht waren nur die geschwollenen Augen zu sehen, ein kleines Stück Stirn und die geplatzte Unterlippe, die genäht worden war. Sie sah aus wie das Opfer eines Splitterbombenangriffs.
Mit einer Stimme, die so schwach war, daß Barbara sich anstrengen mußte, um sie zu
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