Undank Ist Der Väter Lohn.
nicht nur auf Anhieb gewußt, daß das Futter der Jacke mit Blut durchtränkt war, sondern er erkannte auch augenblicklich, daß das Loch genau in Höhe des linken Schulterblatts des Unglückseligen saß, der die Jacke getragen hatte.
Nan fand ihren Mann in seinem kleinen Arbeitszimmer neben ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Er war aus dem Büro geflohen, sobald der Kriminalbeamte gegangen war, und sie war ihm nicht gefolgt. Vielmehr hatte sie die nächste Stunde damit ausgefüllt, in der Halle aufzuräumen und den Speisesaal für das Abendessen zu richten. Nachdem sie damit fertig gewesen war, hatte sie in der Küche nach dem Rechten gesehen und sich vergewissert, daß die Suppe für den Abend in Vorbereitung war. Anschließend hatte sie einer Gruppe amerikanischer Wanderer, die zu einer Aufführung von Jane Eyre in North Lees Hall wollten, erklärt, wie sie fahren mußten. Erst dann hatte sie sich auf die Suche nach ihrem Mann gemacht.
Sie tat es unter dem Vorwand, ihm etwas zu essen zu bringen: Er hatte seit Tagen kaum etwas gegessen, und wenn er so weitermachte, würde er unweigerlich krank werden. Tatsächlich sah die Sache etwas anders aus: Keinesfalls durfte sie zulassen, daß Andy seinen Plan, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen, in die Tat umsetzte. In der Verfassung, in der er sich befand, würden seine Reaktionen nicht verläßlich sein.
Sie belud ein Tablett mit allem, was vielleicht seinen Appetit anregen könnte, stellte zwei Getränke zur Auswahl dazu und ging nach oben.
Er saß am Schreibtisch, einen offenen Schuhkarton vor sich, dessen Inhalt auf der Schreibplatte des Sekretärs ausgebreitet war. Nan rief gedämpft seinen Namen, aber er hörte sie gar nicht, so vertieft war er in die Durchsicht der Papiere, die in dem Karton gewesen waren.
Sie trat näher. Über seine Schulter hinweg konnte sie sehen, daß er in die Betrachtung einer Sammlung von Briefen und Briefchen, Zeichnungen und Glückwunschkarten vertieft war, die sich über einen Zeitraum von beinahe einem Vierteljahrhundert angehäuft hatte. All diese kleinen Schriftstücke und selbstgemalten Bilder stammten von derselben Hand, wenn auch zu verschiedenen Anlässen geschrieben oder gezeichnet. Alle hatte Andy von Nicola bekommen.
Nan stellte das Tablett auf einem kleinen runden Tisch neben dem bequemen alten Polstersessel ab, in dem Andy manchmal zu lesen pflegte. Sie sagte: »Ich habe dir etwas zu essen gebracht, Darling«, und war nicht verwundert, als er ihr nicht antwortete. Sie wußte nicht, ob er sie nicht hören konnte, oder ob er nur allein sein wollte und es nicht über sich brachte, es ihr unverblümt zu sagen. Aber wie auch immer, es spielte keine Rolle. Sie würde ihn zwingen, ihr zuzuhören, und sie würde nicht gehen.
»Bitte, mach diesen Lügendetektortest nicht, Andy«, sagte sie. »Ich weiß, daß diese Tests zuverlässig sein sollen, aber doch nur unter normalen Bedingungen, oder nicht? Dein Zustand ist aber nicht normal, schon seit Monaten nicht.« Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum das so war, darum sprach sie eilig weiter. »Ich rufe gleich morgen früh diesen Polizeibeamten an und sage ihm, daß du es dir anders überlegt hast. Das ist schließlich kein Verbrechen. Das ist dein gutes Recht. Und das wird er auch wissen.«
Andy richtete sich leicht auf. In der einen Hand hielt er eine ungelenke Kinderzeichnung mit der Überschrift »Daddy steigt aus der Badewanne«, die sie beide vor vielen Jahren mit so herzlichem Gelächter betrachtet hatten. Aber jetzt rief der Anblick des Blatts, auf dem das kleine Mädchen seinen nackten Vater abgebildet hatte – komplett mit einem Penis von geradezu grotesker Größe – bei Nan ein Schaudern hervor, dem etwas wie ein Abschalten irgendeiner elementaren Funktion ihres Körpers und ein Aussetzen jeglicher Gefühlsregung folgte.
»Ich mache den Test.« Andy legte die Zeichnung zur Seite. »Es ist die einzige Möglichkeit.«
Die einzige Möglichkeit wozu? wollte sie fragen und hätte es gefragt, wäre sie bereit gewesen, die Antwort zu hören. Statt dessen erwiderte sie: »Und was ist, wenn du ihn nicht bestehst?«
Erst jetzt wandte er sich ihr zu. Er hielt einen alten Brief in der Hand. Nan konnte die Wörter »Liebster Daddy« erkennen, in Nicolas großer, fester Handschrift geschrieben. »Warum sollte ich ihn nicht bestehen?« fragte er.
»Wegen deines Gesundheitszustandes«, antwortete sie. Zu schnell, dachte sie. Viel zu schnell. »Wenn deine Nerven
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