Undank Ist Der Väter Lohn.
hören, sagte sie: »Ich hatte auf ’nen Freier gewartet. Ein alter Mann. Er hat’s gern mit Honig. Ich muß ihn zuerst damit einreiben ... verstehen Sie? Dann leck ich alles ab.«
Na köstlich, dachte Barbara und sagte: »Ah, Honig? Genial. Erzählen Sie weiter.«
Vi Nevin kam der Aufforderung nach. Sie hatte für den Besuch ihr Schulmädchenkostüm angelegt, das ihr Kunde bevorzugte. Aber als sie den Honig herausgeholt hatte, hatte sie gesehen, daß er nicht reichen würde. »Für den Schwanz war’s noch reichlich«, erklärte Vi ungeniert. »Aber ich mußte einen Vorrat da haben, für den Fall, daß er mehr wollte.«
»Ich hab schon verstanden«, versicherte Barbara.
Shelly, die immer noch am Kopfende des Bettes stand, schob ein streichholzdünnes Bein auf die Matratze. Sie sagte: »Laß mich das doch erzählen, Vi. Du machst dich nur fertig.«
Vi Nevin schüttelte den Kopf, sie wollte es selbst erzählen. Viel gab es da sowieso nicht mehr zu berichten.
Sie war schnell noch losgegangen, um den Honig zu besorgen. Nach ihrer Rückkehr hatte sie den Honig in das Glas gegeben, in dem sie ihn stets aufzubewahren pflegte, und wie immer, wenn dieser Freier sie besuchte, ein Tablett mit diversen Leckerbissen gerichtet. Sie hatte das Tablett gerade ins Wohnzimmer tragen wollen, als sie aus einem der oberen Räume ein Geräusch gehört hatte.
Na bitte, dachte Barbara. Hier war die Bestätigung für ihre Interpretation der Fotos, die am Tatort in Fulham aufgenommen worden waren. Aber um ganz sicher zu sein, fragte sie: »War es Ihr Freier? War er vor Ihnen eingetroffen?«
»Nein, er war’s nicht«, antwortete Vi Nevin.
Shelly sagte zu Barbara: »Sie sehen doch, daß sie total fertig ist. Jetzt reicht’s wirklich.«
»Einen Moment noch«, entgegnete Barbara. »Es war also jemand oben, aber es war nicht Ihr Kunde? Wie ist der Mann denn reingekommen? Hatten Sie die Tür nicht abgeschlossen?«
Vi Nevin versuchte, eine Hand zu heben, schaffte aber nur die schwache Andeutung einer Bewegung. »Ich war ja nur kurz weggegangen, um den Honig zu kaufen«, erinnerte sie Barbara.
»Höchstens zehn Minuten.« Sie hatte es deshalb nicht für nötig gehalten, die Tür abzuschließen. Als sie oben das Geräusch gehört hatte, erklärte sie, war sie hinaufgelaufen, um nachzusehen, und hatte in ihrem Schlafzimmer einen Mann vorgefunden. Das Zimmer selbst war völlig verwüstet gewesen.
»Sie haben ihn gesehen?« fragte Barbara.
Nur flüchtig, schattenhaft, als er sich auf sie gestürzt hatte, erklärte Vi Nevin.
Nicht schlecht, dachte Barbara. Manchmal kann schon ein flüchtiger Blick genügen. »Das ist gut. Das ist doch ausgezeichnet. Versuchen Sie, den Mann zu beschreiben, soweit es Ihnen möglich ist. Jede Kleinigkeit ist wichtig. Vielleicht erinnern Sie sich an eine Narbe. Oder irgendeine Besonderheit. Sagen Sie einfach alles, was Ihnen einfällt.« Und sie rief sich Matthew King-Ryders Gesicht in Erinnerung, um mit Vi Nevins Angaben vergleichen zu können.
Doch was Vi Nevin ihr lieferte, war eine Allerweltsbeschreibung: mittelgroß, mittelkräftig, braunes Haar, helle Haut. Sie paßte zwar genau auf Matthew King-Ryder, aber sie paßte ebenso genau auf mindestens siebzig Prozent der männlichen Bevölkerung des Landes.
»Es ist alles viel zu schnell gegangen«, flüsterte Vi Nevin schwach.
»Aber der Mann war nicht der Kunde, den Sie erwartet hatten? Da sind Sie sich ganz sicher?«
Vi Nevin wollte mit ihrer genähten Unterlippe lächeln und zuckte vor Schmerz zusammen. »Der Mann ist einundachtzig. Der kommt nicht mal an seinen besten Tagen die Treppe rauf.«
»Und es war nicht Martin Reeve?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder einer Ihrer anderen Kunden? Ein ehemaliger Liebhaber vielleicht?«
»Sie hat doch schon gesagt –« unterbrach Shelly Platt hitzig.
»Ich brauche absolute Klarheit«, erklärte Barbara ihr. »Sonst können wir den Kerl nicht schnappen. Und Sie wollen doch, daß wir ihn schnappen?«
Shelly gab maulend klein bei und tätschelte Vi Nevins Schulter. Barbara klopfte mit dem Kugelschreiber auf ihren Block und überlegte.
Sie konnten Vi Nevin kaum zu einer Gegenüberstellung schleppen, und selbst wenn das möglich gewesen wäre, hatten sie – jedenfalls im Augenblick – keinerlei Handhabe gegen Matthew King-Ryder, um diesen vorzuführen. Sie brauchten also ein Bild von ihm, aber sie würden es sich bei einer Zeitung oder Zeitschrift besorgen müssen. Oder unter irgendeinem stichhaltigen
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