Underground
einmal so tun, als ob ich den Namen noch nie gehört hätte.
Ihre Stimme klang leise und kultiviert, hinterließ jedoch im Grau eine kalte Spur, die ziemlich beängstigend war. »Sie kennen ihn, Miss Blaine. Sie wurden gestern in seiner Gesellschaft gesehen. Weiß, braune Haare, braune Augen, fünfunddreißig Jahre alt.«
Ich hatte mich am Sonntag mit ziemlich vielen Leuten getroffen, und diese Beschreibung traf auf einige zu. »Haben Sie ein Foto von ihm?«, fragte ich.
Laguire zog eine Schwarzweißfotografie aus der Tasche
und legte sie vor mir auf den Tisch. Es war ein vergrößertes Passfoto, und man konnte deutlich die einzelnen Pixel erkennen. Der Kleidung nach zu urteilen, war die Aufnahme etwa zehn Jahre alt. Bei dem jungen Mann handelte es sich um einen geradezu stereotypen Computergeek mit kurzen Haaren, bartlos, leicht übergewichtig und ein wenig mürrisch oder auch gelangweilt dreinblickend. Er sah so aus, als ob er sich die größte Mühe geben würde, unauffällig zu wirken.
Ich hatte am Sonntag sowohl mit Fish, Quinton als auch den Danzigers gesprochen, war aber auch einigen Kellnern, Bibliothekaren und einem Tankwart über den Weg gelaufen. Viele von ihnen hätten der Mann auf dem Bild sein können, wenn man ihnen einen anderen Haarschnitt, ein anderes Gewicht oder eine Brille verpasst hätte. Natürlich wusste ich inzwischen, wen die Frau suchte, aber ich hatte bestimmt nicht vor, ihr das zu sagen.
Also schob ich das Foto wieder über den Tisch. »Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, Zeugen und Beweise für einige Fälle zusammenzusuchen, die bald vor Gericht kommen. Außerdem war ich mit einigen Obdachlosen beschäftigt, die mir weder ihre Visitenkarten noch ihre richtigen Namen genannt haben. Welcher von den etwa hundert Männern, mit denen ich gestern gesprochen habe oder neben denen ich stand, soll das hier Ihrer Meinung nach sein?«
»J. J. Purlis. Er ist vor einigen Jahren untergetaucht, und wir haben seitdem geduldig darauf gewartet, dass er sich wieder auf unserem Radar zeigt. Gestern hat er das endlich getan. Doch jetzt ist er wieder verschwunden. Aber zumindest Sie wurden identifiziert. Deshalb sind wir hier.« Sie sah mich drohend an.
»Wer hat denn behauptet, dass ich mit diesem Purlis gesehen wurde? Und wo soll das gewesen sein?«, entgegnete ich. »Sie müssen mir schon einen Hinweis geben, sonst kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
Fern Laguire schüttelte enttäuscht lächelnd den Kopf. »Unsere Quelle kann ich Ihnen nicht nennen, Miss Blaine. Das wäre keine gute Idee. Purlis stellt eine echte Bedrohung für die nationale Sicherheit dar – gerade auch für Leute wie Sie. Er verfügt über das Wissen, die Fähigkeiten und den Verstand, um großen Schaden anzurichten. Es ist Ihre Pflicht als amerikanische Staatsbürgerin, uns mitzuteilen, wo er sich gerade aufhält.«
»Ihren Worten nach zu urteilen, scheint der Typ ja ein Terrorist zu sein«, entgegnete ich und sah die Frau spöttisch an.
»Da heutzutage das Erfassen von Informationen und die Dekodierung geheimer Informationssysteme das eigentliche Schlachtfeld darstellen, auf dem die Kriege unserer Zeit ausgefochten werden, könnte er durchaus terroristisch aktiv sein. Ich vermute, dass Sie annehmen, einen Zeugen oder einen Informanten vor uns schützen zu müssen, aber in Wahrheit stellen Sie sich nur zwischen den amerikanischen Staat und einen Flüchtigen, Miss Blaine.«
»Flüchtige dingfest zu machen, gehört meines Wissens doch zu den Aufgaben der Polizei, und nicht zu denen der Fleischfresser aus Fort Meade, Ms. Laguire.«
Das saß. Fern Laguire presste die Lippen aufeinander. Doch ihre Stimme klang weiterhin unnatürlich ruhig, als sie mir antwortete: »Mr. Purlis gehört uns. Wir werden ihn finden. Und Sie stellen sich uns bestimmt nicht in den Weg.« Sie beugte sich wieder drohend vor, um mir so besser in die Augen sehen zu können. »Ich habe keine Zeit,
mit Ihnen irgendwelche Spielchen zu treiben. Aber lassen Sie sich gesagt sein: Ich bekomme immer, was ich will, auch wenn Ihnen das nicht gefallen mag, Miss Blaine. Es ist im Grunde sehr einfach. Ich will nur Purlis’ Aufenthaltsort wissen.«
Ich stand auf, sodass Fern Laguire den Kopf zurücklehnen musste, um mich ansehen zu können. Natürlich behagte ihr das nicht, aber sie wollte auch keinen Schritt zurücktreten. So etwas hätte in ihrer Welt wahrscheinlich einem Rückzug geglichen. »Ich weiß nicht, wo sich Ihr geheimnisvoller Mann aufhält, Ms.
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