Underground
auf einen Bus wartete, fuhr ich mit dem Auto zur Ecke Wall Street und First Avenue. Zu meiner Überraschung fand ich dort sofort einen freien Parkplatz, der noch nicht von den vielen jungen Leuten okkupiert worden war, die gerne ins Belltown-Viertel kamen, um sich hier zu amüsieren.
Ich trat durch die Schwingtüren des El Groucho und bog nach rechts ab, ehe mich der Türsteher in Augenschein nehmen konnte. Dort folgte ich einem kurzen Korridor bis zu dem Neonschild BIG PICTURE über einer Treppe, die nach unten führte. Für einen Moment bedauerte ich es bitterlich, dass Will und ich es nie geschafft hatten, uns hier einen Film anzusehen. Doch dann schüttelte ich den Anflug von Tristesse ab und stieg die Treppe hinunter.
Ein Kino in einer Bar ist selbst für Seattle ungewöhnlich. Allerdings gefiel mir die Vorstellung, endlich einmal ohne nervende Jugendliche und Kinder einen Film sehen zu können. Auf dem Weg nach unten stieg mir der Geruch von Popcorn in die Nase. Falls man hier alte Schwarzweißfilme zeigte, wäre ich im siebten Himmel gewesen. Für einen Moment sah ich mich mit einer Tüte Popcorn und einer Flasche Bier in der Hand und Humphrey Bogart oder auch einer Komödie wie Leoparden küsst man nicht auf einer großen Leinwand, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Die Kinolobby war gleichzeitig die Bar, wo es einige gemütlich aussehende Sofas, Sessel und kleine Tischchen gab. Das Ganze erinnerte an ein großes Wohnzimmer. Die vorherrschenden Gold- und Grüntöne wirkten in dem schwachen Licht noch einladender und üppiger. Auch die Zeitschichten im Grau waren hier weniger bevölkert, was mir natürlich noch besser gefiel. Jemand hatte um die Palmen, die hier in Blumentöpfen herumstanden, bunte Lichterketten gewickelt. Einige Paare hatten es sich bereits auf den Sofas bequem gemacht und nippten an ihren Getränken.
Obwohl der Raum nicht groß war, klangen die Gespräche gedämpft. Vermutlich war die Schallverkleidung für das Kino auch für die Bar verwendet worden. Selbst die Swingband aus dem El Groucho war hier unten nicht zu hören. Ich entdeckte zwei Türen am anderen Ende und vermutete, dass man von dort aus ins Kino und in die anderen Räumlichkeiten gelangte.
Der Barkeeper warf mir einen fragenden Blick zu und lächelte. Er schlug mir vor, meine Eintrittskarte zu lösen, etwas zu bestellen und dann ins Kino zu gehen, da der Film gleich anfangen würde. Ich erwiderte sein Lächeln und erklärte ihm, dass ich auf Freunde warten würde …
»Harper!«
Ich drehte mich um und entdeckte Cameron, der auf mich zukam. Erwartungsvoll blieb er vor mir stehen.
Er hatte sich seit unser letzten Begegnung vor zwei Monaten kaum verändert. An diesem Abend trug er ein schwarzes Hemd über einem strahlend weißen T-Shirt und dazu eine graue Hose. Sein weißblondes Haar war noch immer sehr kurz geschnitten, sodass es abstand, und mir fiel auf, dass die Düsterkeit seiner Vampir-Aura im Vergleich
zu anderen seiner Artgenossen relativ schwach war. Ich vermutete, dass er seit seinem Fehler im Oktober niemanden mehr angegriffen hatte.
Es wäre mir lieber gewesen, ihn nicht um einen Gefallen bitten zu müssen. Obwohl ich Cameron eigentlich mochte, fand ich seine Entwicklung doch abstoßend und erschreckend. Wenn ich fair bleiben wollte, musste ich meine Empörung, was den Toten betraf, den ich mir hatte ansehen müssen, beiseiteschieben. Damals war ich angewidert, aufgebracht und fest entschlossen gewesen, mich in Zukunft von Cameron fernzuhalten. Andererseits hatte mein Besuch im Leichenschauhaus zu der Bekanntschaft mit Fish geführt, was sich nun bei meinem zweiten Besuch als nützlich erwiesen hatte. Ich hatte allerdings nicht vor, Cameron ganz und gar zu verschonen. Es mochte vielleicht etwas spießig von mir sein, aber ich hatte einfach etwas dagegen, wenn man Menschen umbrachte.
»Hi, Cameron.«
Er grinste und entblößte dabei seine scharfen Eckzähne. »Ich hole uns etwas zu trinken. Was willst du?«
Ich zögerte.
»Es ist nur etwas zu trinken, Harper. Du kannst die zweite Runde ausgeben, wenn du willst«, beruhigte er mich.
Da es mir sowieso ein geeigneter Tag für einen Drink schien, willigte ich ein. »Also gut«, erwiderte ich. »Dann einen Bushmills ohne Eis und Soda.«
Wieder schenkte er mir sein strahlendes Lächeln und ging an die Bar, während ich durch die Lobby lief und drei Stufen hinunterstieg, um im nächsten Raum den Vampir zu treffen, den Cameron mitgebracht hatte.
Weitere Kostenlose Bücher