Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
einer Tänzerin den Strand lang. Ich will, dass sie auf mich aufmerksam werden. Aber wenn wir allein sind, Mama, Jeffrey und ich, bin ich ein Kind. Ich plansche im Wasser, renne mit Jeffrey über den Strand, baue Sandburgen und reiße sie wieder ein. Einmal nehme ich Mama die Kamera weg und filme sie. Über dem Badeanzug trägt sie ein geblümtes Hängerkleid, außerdem einen breiten Strohhut und eine Sonnenbrille. Sie sieht so lebendig, so gesund aus. Sie spielt mit uns, lacht, läuft über den Strand, wenn sie sich von den Wellen jagen lässt. Merkwürdig irgendwie. Wenn die Leute sich verändern, vergisst man auf einmal, wie sie einmal waren. Ich hatte vergessen, wie schön sie war, auch wenn sie immer noch schön ist. Aber es ist nicht mehr das Gleiche. Damals war eine Kraft in ihr, ein unbeugsamer Wille, ein Licht, das nie verlosch.
Sie ist sehr still gerade. Ich denke, sie schläft vielleicht, aber dann sagt sie: «Das war meine glücklichste Zeit, damals.»
«Obwohl Papa nicht da war?», frage ich.
«Ja. Ihr zwei habt mich so glücklich gemacht.»
Ich halte ihr meine Popcorntüte hin, aber sie schüttelt den Kopf. Sie isst inzwischen überhaupt nichts mehr. Carolyn bringt sie nur noch dazu, gelegentlich ein paar Schlucke zu trinken, an guten Tagen vielleicht ein oder zwei Löffelchen Schokoladenpudding zu essen. Das macht mir Sorgen, denn Menschen, die leben, müssen essen. Es bedeutet, dass sie nicht mehr richtig lebt.
«Ich glaube, dass das auch meine glücklichste Zeit war», sage ich und schaue mir an, wie ich in die Kamera lächele.
Vor den Visionen. Vor der Aufgabe. Vor den Waldbränden. Vor diesen ganzen Entscheidungen, die ich noch nicht fällen kann.
«Nein», sagt Mama. «Deine glücklichste Zeit kommt erst noch.»
«Wie willst du das wissen?»
«Ich habe es gesehen.»
Ich setze mich auf und schaue sie an. «Was willst du damit sagen?»
«Mein ganzes Leben lang habe ich zukünftige Ereignisse aufblitzen sehen, meist Ereignisse, die mich betrafen, wie eine Vision, aber manchmal habe ich auch andere gesehen. Deine Zukunft jedenfalls habe ich gesehen oder zumindest Varianten davon.»
«Und was hast du gesehen?», frage ich neugierig.
Sie lächelt. «Du gehst nach Stanford.»
«Erzähl mir was Neues.»
«Es gefällt dir dort.»
«Stanford bedeutet also so etwas wie Glück? Na toll, dann ist das ja geklärt. Kannst du mir vielleicht auch sagen, welche Farbe mein Zimmer im Wohnheim hat? Im Moment schwanke ich nämlich noch zwischen Lavendel und Königsblau.» Natürlich bin ich sarkastisch jetzt, und vielleicht sollte ich das nicht, da es doch den Anschein hat, als wolle sie mir etwas Wichtiges mitteilen. Doch die Wahrheit ist, dass ich mir wirkliches Glück nicht vorstellen kann. Nicht ohne sie.
«Ach, Süße.» Sie seufzt. «Tu mir einen Gefallen, ja?», sagt sie. «Guck mal in die oberste Kommodenschublade. Ganz hinten.»
Hinter ihren Socken entdecke ich eine staubige rote Samtschachtel. Darin liegt ein silbernes Bettelarmband mit kleinen Glücksanhängern, alt und ein wenig fleckig. Ich halte es hoch.
«Was ist das?» Ich habe sie es nie tragen sehen.
«Das sollst du auf dem Friedhof tragen.»
Ich betrachte die kleinen, ganz normal aussehenden Glücksbringer. Ein Herz. Ein Pferd. Ein paar wohl unechte Edelsteine. Ein Fisch.
«Es war mal meins, vor langer Zeit», sagt sie. «Und jetzt gehört es dir.»
Ich schlucke. «Willst du mir denn nicht sagen, dass du immer bei mir sein wirst? Sagt man das denn nicht so? Du wirst immer in meinem Herzen sein, irgendwas in der Art?»
«Du bist ein Teil von mir», erwidert sie. «Und ich bin ein Teil von dir. Also ja, ich werde bei dir sein.»
«Aber nicht richtig, nicht so, dass wir reden können, oder?»
Sie legt ihre Hand auf meine. Ihre Hand fühlt sich so leicht an, leichter, als eine Hand sein sollte, ihre Haut ist wie das denkbar dünnste weiße Papier. Als könnte sie vom Wind fortgeweht werden.
«Zwischen dir und mir besteht eine Verbindung, die nichts je zerreißen kann, weder im Himmel noch auf Erden, nicht einmal in der Hölle. Wenn du mit mir sprechen willst, sprich. Ich werde dich hören. Ich werde vielleicht nicht antworten können, jedenfalls nicht genau zur selben Zeit …»
«Denn ein Tag ist wie tausend Jahre …»
Sie lächelt. «Natürlich. Aber ich werde dich hören. In jedem einzelnen Moment schicke ich dir meine Liebe.»
«Aber wie?» Ich kann die Tränen in meiner Stimme nicht zurückhalten.
«Im himmlischen
Weitere Kostenlose Bücher