Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
geradewegs aus meinen schlimmsten Ängsten, und ich kann nur wenige Sekunden hinschauen, ehe ich den Blick abwenden muss.
Von oben dringt das Geräusch einer gedämpften Stimme, ein schleppender Laut, als schleife jemand einen Stuhl über den Fußboden.
Unsicher schaue ich Christian an, frage wortlos: Was sollen wir machen?
Er deutet mit dem Kopf auf die entgegengesetzte Ecke, wo eine Treppe ins obere Stockwerk führt. Langsam gehen wir die Treppe hinauf, darauf bedacht, nur ja keinen Lärm zu machen. Oben bleiben wir stehen und horchen. Die Tür vor uns ist geschlossen, ein Band aus hellem Licht dringt unter dem Türspalt hervor.
Ich verspüre den lächerlichen Drang anzuklopfen, so als würde sich alles als ganz normal herausstellen, wenn ich mich nur normal benehme. Ich werde anklopfen, und Anna wird ganz ernst wie immer aufmachen und uns fragen, was wir um diese Uhrzeit hier wollen, aber dann wird sie uns zu Angelas Zimmer führen, und Angela wird ausgestreckt auf ihrem Bett liegen und lesen, und dann wird sie sagen: Also wirklich, Leute. Leidet ihr so sehr unter Verfolgungswahn, dass ihr nicht mal bis morgen warten könnt?
Ich könnte anklopfen, und dann würde dort auf der anderen Seite dieser Tür nichts Böses sein.
Christian schüttelt sacht den Kopf. Was spürst du? , fragt er.
Ich öffne meinen Geist. In dem Augenblick, in dem ich meine Abwehrmechanismen fallen lasse – mir war gar nicht bewusst, dass ich sie eingeschaltet hatte –, werde ich ganz und gar von Kummer durchströmt, einem tiefen, durchdringenden Schmerz, so heftig, dass ich nach Luft schnappen muss. Ich lehne mich an die Wand und versuche, in das Leiden abzutauchen, seine Quelle ausfindig zu machen, aber alles, was ich empfange, ist das Bild eines Frauenkörpers; die Frau treibt mit dem Gesicht nach unten im Wasser, ihr dunkles Haar breitet sich um ihren Kopf herum aus. Der Engel – o ja, es ist definitiv ein Engel – ist nicht Samjeeza, so viel ist mir klar. Der Kummer dieses Engels ist anders als Sams, ärgerlicher, eine Wut, die in einer jahrhundertealten Qual gefangen und immer noch rot glühend ist, dabei aber viel beherrschter als Sams Kummer, weniger voller Selbstmitleid, als kanalisiere dieses Wesen seine Gefühle in etwas anderes: eine Aufgabe. Den Wunsch zu zerstören.
Da ist ein Schwarzflügel , sage ich wortlos zu Christian, darauf bedacht, dass die Worte nur zwischen uns beiden strömen, wie Dad es uns beigebracht hat. Kummer ersten Grades. Das ist so ungefähr alles, was ich empfange – es überlagert alles andere. Was ist mit dir? Kannst du sagen, was irgendwer dort drin denkt?
In dem Raum befinden sich mindestens sieben Personen , sagt er und schließt die Augen. Es ist schwer, sie auseinanderzudividieren.
«Ich habe dir gesagt, du bist hier nicht willkommen», sagt plötzlich eine Stimme, tief und verängstigt. «Ich will, dass du gehst.»
«Komm schon, Anna», antwortet eine andere Stimme – ein älterer Mann, dem Klang nach zu urteilen, mit dem leicht singenden Tonfall, wie auch Dad ihn hat. «Behandelt man denn so einen alten Freund?»
«Du bist nie mein Freund gewesen», erwidert Anna. «Du warst ein Fehler. Eine Sünde.»
«Ach, eine Sünde», sagt er. «Ich fühle mich geschmeichelt.»
«Ich weise dich fort von hier. Im Namen von Jesus Christus. Hebe dich hinweg.»
Das ärgert ihn. «Ach, sei doch nicht so dramatisch. Hier geht es doch gar nicht um dich.»
«Worum geht es dann?» Das sagt Angela, gelassen und geradezu aberwitzig ruhig, bedenkt man, dass ein Schwarzflügel in ihrem Wohnzimmer steht. «Was willst du?»
«Wir wollen uns das Baby anschauen», antwortet er.
Christian und ich wechseln besorgte Blicke. Wo ist Webster?
«Mein Baby?», wiederholt Angela, scheinbar begriffsstutzig. «Wieso?»
«Penamue würde den Winzling gern sehen und ich auch. Ich bin schließlich der Großvater.»
Heilige Scheiße, denke ich. Phen ist hier. Und … soll das etwa heißen, dass der andere Engel Angelas Vater ist?
«Du bist gar nichts, was ihn angeht, Asael», speit Anna hervor. «Rein gar nichts.»
Bei dem Namen Asael strömt auch noch das letzte bisschen Information in mein Hirn, das ich über diesen Typen im vergangenen Jahr recherchiert habe: der Sammler, der große Bösewicht, der vor nichts haltmachen würde, um alle Triplare dieser Erde entweder auf seine Seite zu ziehen oder zu vernichten, der Bruder, der Samjeeza um seine Position als Anführer der Wächter betrogen hat. Sehr gefährlich ,
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