Unersaettlich - Scharfe Stories
bewundern konnte. Er redete aber trotzdem weiter
– was ich sehr irritierend fand. Sah er mich tatsächlich nur als Journalistin?
»Wir benutzen unterschiedliche Sorten von Schilfrohr in unterschiedlichen Längen.«
Ich fragte mich, wie sein Schilfrohr wohl aussehen mochte – mittlere Länge und hübsch geformt wahrscheinlich -, aber er redete unbeirrt weiter. »Längen. Man kann drei verschiedene Längen kaufen: kurz, neunzig bis ein Meter zwanzig, mittel, eins zwanzig bis eins fünfzig, und lang – eins fünfzig bis eins achtzig. Diese drei Sorten sind schlank, zylindrisch und mit breiter Spitze.« Ich hoffte, dass sein Schilf auch zu der Sorte mit breiter Spitze gehörte.
»Das mit breiter Spitze ist am stärksten gefragt, wenn es lang und hart ist«, fuhr er fort.
Das glaube ich dir sofort, dachte ich und leckte mir über die Lippen. »In welchen Mengen werden sie geordert?«
»In Fathoms, sechs Bündel ergeben ein Fathom. Und in einem Bündel sind Hunderte von gemischten Schilfrohren aller Sorten und Längen. Ich bekomme nur das beste Schilf, aus Salhouse und Ranworth. Die Qualität ist unterschiedlich, je nach Alter und Standort. Manche mögen Schilf aus Salzmarschen, aber ich ziehe Süßwassermarschen vor. Ich kaufe nur das Beste und in großen Mengen, weil die Qualität von Jahr zu Jahr variiert.«
»Das klingt ganz schön teuer für ein nicht so langlebiges Ergebnis.« Lächelte er denn nie? Wenn er nicht auf mich stand, dann würde ich mich eben auch nur wie eine Journalistin benehmen und es dabei belassen. Schließlich gab es noch jede Menge andere Fische im Teich.
»Sie können mit etwa sechseinhalbtausend Pfund für ein normales Einfamilienhaus von etwa dreihundertfünfzig Quadratmeter Dachfläche rechnen. Meine Dächer halten etwa siebzig Jahre. Aber da das Interesse an einheimischen Baumaterialien so groß geworden ist, sind auch die Preise entsprechend gestiegen. In den sechziger Jahren hat man für ein Bündel etwa acht Pence bezahlt, aber mittlerweile ist es ein Pfund siebzig zuzüglich Mehrwertsteuer. Ausländisches Schilf ist preiswerter, und dann muss man ja auch noch bedenken, dass Leitern und Transport ebenfalls Geld kosten.«
Anscheinend wollte Ken mir lediglich die Informationen geben, die sein Geschäft ankurbelten. Er fuhr mit mir durch ein paar Dörfer und zeigte mir Dächer in verschiedenen Baustadien. Sein Landrover vibrierte, wie alle alten Modelle, und das machte mich geil, ebenso wie der große, schwarze Schaltknüppel zwischen uns.
»Manche Leute wollen das Dach dichter gedeckt haben. Andere lassen nur einen neuen First setzen. Die gründlichen Leute beziehungsweise die mit Geld lassen das alte Schilf herunterreißen und neu decken. Und haben Sie die Firste gesehen?«
Ich nickte.
»Die Muster zeigen, welcher Meister das Dach gedeckt hat. Jeder von uns hat eine eigene Handschrift, so wie jede Fischerfamilie ihr eigenes Pullovermuster hat. Problematisch ist nur, wenn man beim Neueindecken das Muster ändern will. Diese Beamten vom Bauamt sind so konservativ, dass sie einem vorschreiben wollen, das alte Muster zu belassen. Deshalb haben sowohl der Kunde
als auch der Dachdecker kaum einen Spielraum für Kreativität.«
»Dann ist die Arbeit also nicht mehr so befriedigend? Und wahrscheinlich hat es dann auch nicht mehr viel mit der Individualität des einzelnen Handwerkers zu tun?« Ich dachte, dass ein bisschen Empathie ihn vielleicht ermuntern würde, seine Individualität an meiner Möse auszuleben, aber er blieb ernst.
»Genau.«
»… und wie ist Ihre Handschrift, Ken?«
»Das ist persönlich.«
»Ach, kommen Sie.«
»Nun, unter Umständen könnte ich sie … äh … Ihnen später zeigen, Christina.«
Das klang vielversprechend. Vielleicht.
Wir fuhren wieder in die Ticklebelly Lane, und ich notierte mir ein paar grundlegende persönliche Einzelheiten – wie zum Beispiel, dass er hinter den Dünen in der Nähe von Eccles in einem bunten, umgebauten Krankentransporter aus dem Zweiten Weltkrieg lebte, allerdings mit Satellitenschüssel, so dass er CNN empfangen konnte und so. Er hatte sein Handwerk in Knuston Hall in Northampton gelernt und dann ein Franchise-Unternehmen aufgebaut. Neben ihm wohnten in einem alten Zirkuswagen zwei ungarische Jongleure und auf der anderen Seite ein Typ, der für ein Computermagazin neue Software testete. Ken hatte in Keele Wirtschaftswissenschaften studiert und in den achtziger Jahren an der Börse gearbeitet.
»Sind Sie
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