Ungeduld des Herzens.
hin, als erhoffe er von dem harten, rissigen Holz mehr Mitleid als von mir.
»Ich weiß, Herr Leutnant«, beginnt er beklommen, »daß ich kein Recht habe – oh, gewiß, kein Recht, Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen. Aber was soll ich tun, was sollen wir tun? Ich kann nicht mehr weiter, wir alle können nicht mehr weiter ... Gott weiß, wie das über sie gekommen ist, man kann ja nicht mit ihr reden, sie hört auf keinen mehr ... Und dabei weiß ich doch, sie tut's nicht aus schlechter Absicht ... nur unglücklich ist sie, unermeßlich unglücklich ... nur aus Verzweiflung tut sie uns das an ... glauben Sie mir, nur aus Verzweiflung.«
Ich warte. Was meint er? Was tut sie ihnen an? Was denn? Rück endlich heraus! Warum redest du so täuscherisch herum, warum sagst du nicht gerade heraus, was los ist?
Aber der alte Mann starrt leer auf den Tisch. »Und dabei war doch alles besprochen, alles schon vorbereitet. Der Schlafwagen bestellt, die schönen Zimmer reserviert, und gestern nachmittag war sie noch voll Ungeduld. Sie hatte sich selbst die Bücher ausgesucht, die sie mitnehmen wollte, hat die neuen Kleider und den Pelz probiert, die ich aus Wien hab kommen lassen; und mit einmal ist das in sie gefahren, ich versteh's nicht, gestern abends nach demEssen – Sie erinnern sich ja, wie sie erregt war. Ilona versteht's nicht und niemand versteht's, was plötzlich über sie gekommen ist. Aber sie sagt und schreit und schwört, um keinen Preis werde sie wegfahren, keine Macht der Erde könne sie fortbringen. Sie bleibt, sie bleibt, sie bleibt, sagt sie, und wenn man ihr das Haus über dem Kopf anzündet. Sie mache den Schwindel nicht mit, sie lasse sich nicht betrügen, sagt sie. Nur weghaben wolle man sie mit dieser Kur, nur sie los sein. Aber wir alle würden uns irren, wir alle. Sie fährt einfach nicht weg, sie bleibt, sie bleibt, sie bleibt.«
Mich überläuft's kalt. Das also steckte hinter dem zornigen Lachen von gestern. Hat sie bemerkt, daß ich nicht weiter kann, und inszeniert sie das, damit ich ihr verspreche, doch in die Schweiz nachzukommen?
Aber: nicht dich einlassen, befehle ich mir. Nicht zeigen, daß es dich erregt! Dem alten Mann nicht verraten, daß ihr Dableiben dir die Nerven zerreißt! So stelle ich mich mit Absicht töricht und äußere ziemlich gleichgültig:
»Ach, das wird sich schon geben! Sie wissen doch am besten, wie wetterwendisch bei ihr die Launen umspringen. Und Ilona hat mir ja telephoniert, es handle sich nur um einen Aufschub von ein paar Tagen.«
Der alte Mann seufzt, und dieser Seufzer bricht dumpf aus ihm wie ein Erbrechen; es ist, als risse dieser jähe Aufstoß ihm die letzte Kraft aus der Brust.
»Ach Gott, wenn das nur so wäre! Aber das Schreckliche ist, daß ich fürchte ... wir fürchten alle, daß sie überhaupt nicht mehr wegreisen wird ... Ich weiß nicht, ich versteh's nicht – auf einmal ist ihr die Kur gleichgültig geworden und ob sie geheilt wird oder nicht. ›Ich laß mich nicht länger quälen, ich laß nicht mehr an mir herumkurieren, es hat alles keinen Sinn!‹ Solche Dinge sagt sie; sagt sie so, daß einem das Herz stillsteht. ›Ich laß mich nichtmehr betrügen‹, schreit und schluchzt sie, ›alles durchschaue ich, alles durchschaue ich ... alles!‹«
Ich überlege rasch. Um Gottes willen, hat sie etwas bemerkt? Habe ich mich verraten? Hat Condor eine Unvorsichtigkeit begangen? Konnte sie aus einer achtlosen Bemerkung Verdacht schöpfen, daß mit dieser Schweizer Kur nicht alles stimmt? Hat ihre Hellsichtigkeit, ihre furchtbar mißtrauische Hellsichtigkeit am Ende durchschaut, daß wir sie eigentlich zwecklos wegschicken? Vorsichtig taste ich mich heran.
»Das verstehe ich nicht ... Ihr Fräulein Tochter hatte doch sonst unbedingtes Vertrauen zu Doktor Condor, und wenn er ihr diese Kur so dringend anempfohlen hat ... dann verstehe ich das einfach nicht.«
»Ja, aber das ist es ja! ... Das ist ja der Wahnsinn: sie will überhaupt keine Kur mehr machen, sie will gar nicht mehr geheilt werden! Wissen Sie, was sie gesagt hat? ... ›Um keinen Preis fahr ich weg, ich hab die Lügnerei satt! ... Lieber der Krüppel bleiben, der ich bin, und dableiben ... ich will nicht mehr geheilt werden, ich will nicht, das hat alles keinen Sinn mehr.‹«
»Keinen Sinn?« wiederhole ich ganz ratlos.
Aber da senkt der alte Mann den Kopf noch tiefer, ich sehe seine schwimmenden Augen, ich sehe die Brille nicht mehr. Nur an dem dünnen flattrigen weißen Haar merke
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