Ungeplant (German Edition)
Rettungskräfte haben alles ihnen Mögliche getan, aber sie hat es leider nicht geschafft.“
8.
Von: Sven Gutknecht
An: Melina Baur
Betreff: Kein Thema
Lina,
mit der letzten Mail wollte ich Dir nicht die Pistole auf die Brust setzen und eine Entscheidung erzwingen. Aber nach über einer Woche wäre eine Reaktion wirklich nett gewesen. Irgendeine Reaktion. Ich wäre schon mit ein paar Beschimpfungen zufrieden.
Deine Stille ist beunruhigend.
Ich bin noch Dein Freund. Aber bist Du auch noch meine beste Freundin?
Wir reden, wenn ich zurück bin. Bitte sag mir, dass du noch irgendwo da draußen bist.
Ich liebe Dich, Lina.
Sven
Von: Sven Gutknecht
An: Melina Baur
Betreff: Kein Thema
Lina, bitte. Ich flehe Dich an. In zwei Wochen bin ich wieder Zuhause. Holst Du mich vom Flughafen ab?
Muss ich erst Kim anrufen, um zu erfahren, wie es Dir geht?
Oder soll ich Thomas vorbeischicken, damit er mir sagen kann, ob es Dir noch gut geht?
Ich BRAUCHE ein Lebenszeichen von Dir.
Sven
Von: Melina Baur
An: Sven Gutknecht
Betreff: Lebenszeichen
Ich bin noch da und werde versuchen, Dich abzuholen.
Wenn ich es nicht schaffe, dann kommt Thomas.
Melina
Von: Sven Gutknecht
An: Melina Baur
Betreff: Re: Lebenszeichen
Wow, das war kalt.
Trotzdem hoffe ich auf Deine Anwesenheit.
Sven
9.
Mir war nicht bewusst, dass es solche Stufen von körperlicher Erschöpfung gibt. Ich bin ein Zombie. Max hält Nachtschlaf für überflüssig. Meine Eltern trauern und sind als Unterstützung praktisch nicht anwesend. Dazu habe ich noch Kims Wohnung aufgelöst und die Beerdigung organisiert. Alles mit Max in der Bauchtrage oder im Kinderwagen. Ich bin nicht mehr ich selbst. Mein ganzes Leben ist auf den Kopf gestellt worden und dabei fühle ich mich einfach nur wie betäubt. Nichts dringt richtig zu mir durch, selbst Kims Tod nicht. Ich funktioniere nur noch.
In einer Woche kommt Sven und ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. In diesem ganzen Chaos bleibt mir keine Sekunde Zeit zum Atmen. Mit den Ämtern ist noch nichts geregelt. Nur die Vormundschaft für Max ist mir anstandslos zugesprochen worden. Die Anträge für Elterngeld und Kindergeld laufen, doch bisher lassen die Bescheide auf sich warten.
Ein bisschen Geld habe ich auf der hohen Kante, aber das wird uns nicht durchs nächste Jahr bringen. Meine Eltern haben mit der Übernahme der Beerdigung auch alle Reserven ausgeschöpft.
Ich bin so verflucht müde. Der Küchentisch vor mir ist mit unerledigten Papieren übersät und scheint doch so einladend, einfach mal meinen Kopf drauf abzulegen. Max liegt für ein kleines Nickerchen in seinem Bett im Schlafzimmer.
Leider habe ich kein eigenes Zimmer für ihn, aber momentan ist es auch praktischer, ihn nachts neben mir zu haben. Ich gebe der Versuchung nach und lege meine Wange auf einen Unterarm. Nur für einen Moment.
Ein schriller Schrei reißt mich aus meinem Schlummer. Max ist wieder wach und ich habe keine Ahnung, wie lange ich weggetreten war. Aber das spielt auch irgendwie keine Rolle. Mit einem so kleinen Kind wird Zeit ein relativer Faktor. Tag? Nacht? Eine Stunde, eine Minute. Alles verschwimmt ineinander. Füttern, wickeln, baden, schlafen legen, schmusen, singen.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Bad genommen habe. Es reicht immer nur für eine schnelle Dusche, mit Max in der Babyschale neben mir, auf dem Toilettensitz. In der Regel habe ich 4 Minuten, bevor er anfängt zu meckern. Dieses Meckern geht dann nach spätestens zwei weiteren Minuten in lautes Aufheulen über.
Natürlich liebe ich den kleinen Mann, aber ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass er jetzt mein Kind ist. Beim Jugendamt habe ich deutlich gemacht, dass er auf jeden Fall bei mir bleiben soll, doch ich werde noch eine ganze Weile brauchen, um mich mit der Mutterrolle anzufreunden. Es ist nicht so,
Weitere Kostenlose Bücher