Ungnade: Thriller (German Edition)
wäre sie nicht mehr der gleiche Mensch wie früher, Sam. Ich habe sie kaum wiedererkannt. Die Frau war ein Ausbund an Lebensfreude gewesen und lag nun abgezehrt in diesem Bett, ein Schatten ihrer selbst. Mit jeder Sekunde, die ich vor ihr stand und sie ansah, starb sie ein bisschen mehr. Ich habe sie auf die Stirn geküsst, aber es war, als würde ich Pergament berühren, so dünn und ausgetrocknet war ihre Haut. Doch das Schlimmste war«, er wandte den Kopf und blinzelte ein paarmal, » dass sie nicht einmal gemerkt hat, dass ich da war. Ihre Augen blickten durch mich hindurch. Ich glaube nicht, dass ich meinen Eltern das je vergeben habe, dass sie mich von ihr ferngehalten haben. Ich konnte nicht einmal richtig von ihr Abschied nehmen.«
» Sie haben getan, was sie für richtig hielten, Alex. Heute verstehst du das, oder?«
» Das ist jedenfalls das Schlimmste an Krankenhäusern, Sam. Nicht dass man zum Sterben herkommt, sondern dass sie dir deine Seele nehmen, dich in etwas verwandeln, was niemand wiedererkennt, bevor sie dich dann für immer erledigen.«
» Aber es ist doch bloß ein Gebäude.«
» Nicht für mich. Als ich sechzehn war, verpflichtete ich mich bei der Army. Wahrscheinlich aus diesem Grund. Ich konnte meinen Eltern nicht verzeihen und wollte fort von ihnen, mein eigenes Leben leben. Ich habe meiner Mutter damit das Herz gebrochen, das weiß ich.«
» Sie ist darüber hinweggekommen, Alex. Auch das weißt du. Sie war so stolz auf dich, wie eine Mutter auf ihren Sohn nur stolz sein kann. Auf dich und Michael. Ich konnte es ihr bei unserer Hochzeit ansehen– und auch, als sie zu Jodies Geburt gekommen ist. Und zu Annas. Ich habe ihr immer ansehen können, wie sehr sie dich liebte.«
» Du hast ja recht. Aber damals war ich noch jung. Es hat eine Weile gedauert, bis ich erwachsen wurde. Die Jahre, die ich mir und meinen Eltern damit geraubt habe… Und nun sind sie beide tot.«
» Aber sie haben noch das miterleben dürfen, was für alle Eltern das Wichtigste ist: dass ihre Söhne erfolgreich auf eigenen Füßen stehen und eine eigene Familie gründen. Quäl dich deswegen nicht länger.«
Den Rest seiner Kleidung zog Cahill ohne Hilfe an, während Samantha den Wagen vor den Haupteingang fuhr.
Er schlüpfte gerade in eine leichte Jacke, als Tara Byrne sein Zimmer betrat und sich gegen die Wand lehnte. Sie trug noch immer das Kleid vom Vorabend, jedoch keinen Schmuck und auch kein Make-up mehr. Sie war blass und wirkte übermüdet.
» Wie geht es Ihnen?«, fragte Cahill. Er hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollte.
Als sie mit den Achseln zuckte, begann auch ihr Kinn zu zittern.
» Ich habe das mit Phil gehört«, sagte er. » Mein Beileid. Ich weiß, dass Sie sich nahegestanden haben.«
Sie zog schniefend die Nase hoch und schlang die Arme um ihren Oberkörper. » Sie und Ihre Leute sind ja auch nicht gerade mit heiler Haut davongekommen.«
» So etwas lässt niemanden unberührt. Man muss einfach weitermachen.«
Sie setzte sich auf das Bett, legte die Hände in den Schoß und verschränkte nervös ihre Finger. Cahill, der vor ihr stand, konnte die Stiche sehen, mit denen sie am Kopf genäht worden war.
» Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er. » Kommt jemand, um Sie abzuholen?«
» Ja, mein Vater ist hier. Ich habe ihn gebeten, im Flur zu warten, weil ich mich noch von Ihnen verabschieden wollte, bevor ich das Krankenhaus verlasse.«
» Sie bleiben jetzt erst mal bei Ihren Eltern?«
» Ja.« Sie blickte zu ihm hoch. » Im Augenblick scheinen Sie sich um Vorkehrungen für meine Sicherheit ja keine allzu großen Gedanken zu machen. Wie kommt das– nach allem, was gestern Abend passiert ist?«
Er setzte sich neben sie. » Ich glaube nicht, dass ich im Moment in der Verfassung bin, mich um Sie zu kümmern. Zudem kann man nicht sagen, ob das Attentat gestern Abend Ihnen gegolten hat.«
» Wem denn sonst?«
» Das weiß ich nicht. Niemand weiß das.«
» Sie haben schon mit der Polizei gesprochen?«
» Das habe ich, aber auch die sind kein bisschen schlauer, soweit ich das beurteilen kann.«
Sie erhob sich und ging zur Tür. Dann blieb sie, die Hand am Türrahmen, stehen und blickte den Korridor entlang. Cahill spürte, dass sie noch etwas bedrückte, also wartete er ab.
» Ich wollte nur sagen, dass ich Ihnen keine Vorwürfe mache.« Sie drehte den Kopf zur Seite, sah ihn aber nicht an. » Wegen Phil.«
Cahill schwieg.
» Ich kann mich noch genau an gestern Abend
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