Unguad
Grund mehr, ein wenig mitzuhelfen.«
»Karin, halt dich da raus! Ach, was sag ich, du hörst ja doch nicht
auf mich!«
Verlegenes Schulterzucken, verdrücktes Grinsen meinerseits. Wo er
recht hatte, hatte er recht.
Vierzehn Uhr zehn
Tibor von Markovics hatte sich auf seinen täglichen Rundgang begeben.
Ein wenig den Gang entlang, mal sehen, wen man da so traf, bei Szabó
vorbeigeschaut, die ein oder andere Mitbewohnerin mit einer angedeuteten
Verbeugung und ein paar charmanten Worten begrüßt. Jetzt schätzte er seine
momentane Verfassung ab und entschied sich spontan für einen Ausflug auf die
Dachterrasse.
Von dort oben hatte man einen unvergleichlichen Ausblick über die
sanften Hügel und Täler des Rottals. An klaren Tagen sah man sogar bis zu den
Alpen nach Österreich und konnte hinter den letzten Bergspitzen das Mittelmeer
erahnen.
Die Sonne schien juniwarm vom Himmel, aber hier oben wehte immer ein
leichter Wind, sodass angenehme Temperaturen herrschten. Tibor überlegte sich,
ob es ihm vielleicht nicht doch zu windig war. In seinem Alter musste man aufpassen.
Schnell holte man sich eine Lungenentzündung und das war’s dann. Er fasste
jedoch den Entschluss, heute einmal Hasardeur zu spielen und es mit dem lauen
Lüftchen aufzunehmen.
Allerdings waren nicht viele so wagemutig wie er. Alleine war er
hier oben. Doch halt, nein, das stimmte nicht. Weiter hinten unter der Pergola
mit dem orangeroten Geißblatt saß die niedliche Praktikantin und weinte sich
die Augen aus. Den rechten Fuß hochgezogen und auf die Sitzfläche der Bank
gestützt, Arme und Kopf auf dem Knie abgelegt, so kauerte sie leise schluchzend
vor ihm. Wie hieß sie noch, die Kleine? Na, egal.
Tibor ging mit seinen vorsichtigen Schrittchen unter Zuhilfenahme
des schwarzen Gehstockes zu dem traurigen Kind. Aus Tradition steckte er jeden
Tag ein frisch gewaschenes und gebügeltes Stofftaschentuch ein. Das zog er
jetzt aus seiner Hosentasche und hielt es dem Mädchen hin.
Anna hörte erschrocken zu weinen auf, sie hatte den alten Herren gar
nicht bemerkt, so groß war ihr Kummer. Kurze Ein- und Abschätzung, dann nahm
sie das Taschentuch, bedankte sich und putzte sich ausgiebig die Nase.
Mit einem höflichen »Darf ich?« setzte sich Tibor ein wenig
schwerfällig neben sie.
»Was betrübt Sie denn an diesem wunderschönen Sommertag so sehr?«
Mit beiden Händen auf dem Stockknauf schaute er zu ihr hinüber. »Wie heißen
Sie, mein Kind?«
»Anna.«
»Nun, Anna, was fehlt Ihnen?«
»Sie sind der Herr von Markovics von Station zwölf, nicht wahr?«
Tibor bejahte dies huldvoll.
Das Mädchen schnäuzte nochmals kräftig in das Tuch. »Mir ist was
Blödes passiert und Schwester Sieglinde hat mich ausgeschimpft.« Leichtes
Aufschluchzen. »Ich sollte der Frau von Hohenstein ihre warme Milch bringen.
Und dann bin ich gestolpert und hab … die Milch … der Frau von Hohenstein über
die Füße gekippt. Ihre ganzen Hausschuhe waren nass.«
Anna schaute ihn mit rotgeweinten Augen an. Sie schien das Unglück
noch einmal mitzuerleben. »Und die Frau von Hohenstein hat so laut geschrien,
dass die Schwester Sieglinde herbeigelaufen ist und die Bescherung gesehen hat.
Dann haben beide geschrien, was ich denn für ein Nichtsnutz bin und dass ich
das wegputzen soll. Das hab ich natürlich auch gemacht. Und mich entschuldigt
bei der Frau von Hohenstein. Aber als ich draußen war, hat mich die Schwester
Sieg-linde zu sich ins Schwesternzimmer geholt und zusammengestaucht. Ich bin
halt doch nicht geeignet für den Beruf, hat sie gemeint. Dabei hat er mir so
Spaß gemacht!« Erneutes geräuschvolles Weinen in das geliehene Taschentuch.
»Na, na, kisasszony . So schlimm ist das ja
auch nicht. Das kann jedem einmal passieren. Frau von Hohenstein ist eine
Freundin von mir. Die sieht das sicherlich nicht so dramatisch. Mit ihr rede
ich. Und was die Schwester Sieglinde angeht: Die ist ein bisschen strenger.
Allerdings meint sie das bestimmt nicht so. Bemühen Sie sich weiter, dann wird
das schon wieder. Glauben Sie einem alten Mann! Ich hab das auch erlebt. Warten
Sie, das muss 1938 in der Schule gewesen sein. Ja, 1938,
Fußballweltmeisterschaft, die Ungarn hatten gerade fünf zu eins gegen die
Schweden gewonnen. Ich hatte einen Professor in Wirtschaft, ein nobler, aber
überkorrekter Mensch. Der rief mich auf, und ich war nicht präpariert.«
Anna schaute fragend.
»Ich hatte nicht gelernt. Also stand ich auf und sagte: ›Herr
Professor, ich kann
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