Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
prügelte, war meine Mutter nicht da. Obwohl er sich leicht von ihr aufhetzen ließ. Er hat meiner Mutter mehr geglaubt als mir. Meine Mutter stichelte, machte mich wegen der kleinsten Kleinigkeit schlecht …«
René erzählte und war bemüht, ein möglichst negatives Bild seiner angeblich lieblosen, gewalttätigen Eltern zu zeichnen. Jeden Satz, den er aussprach, diktierte mein Kollege Wort für Wort in den Computer, sodass René noch einmal hören konnte, was er zuvor gesagt hatte. Ich saß ihm direkt gegenüber und schwieg. Ich blickte ihn nur an, und er schaute immer wieder weg. Als er nicht aufhörte, seine Mutter schlechtzumachen, stand ich auf, trat nahe an ihn heran, beugte mich zu ihm hinunter und sagte:
»Wissen Sie was? Ich gehe jetzt zu Ihrem Vater. Wir haben nämlich die Aufgabe, die Wahrheit zu ermitteln. Und die lasse ich mir besser von Ihrem Vater berichten. Aber da Sie das Recht haben, an gehört zu werden, wird der Kollege weiter auf schreiben, was für schreckliche Monster Ihre Eltern waren. Nur eines möchte ich Ihnen noch sagen, auch wenn es sinnlos sein dürfte: Sie sollten sich schämen. Das ist nur widerlich, was Sie hier abziehen. Und besonders intelligent übrigens auch nicht.«
Ich sprach diese Worte langsam, leise und eindringlich. Dann ging ich hinaus. Es dauerte nicht ganz eine Minute, bis die Protokollführerin mir aufgeregt nacheilte und sagte: »Er weint, er weint. Er sagt, er will nicht länger lügen. Er möchte ein Geständnis ablegen.«
Urplötzlich, so mein Kollege, brach es aus ihm heraus. Innerhalb von Sekunden, ohne jede Vorankündigung sank er in sich zusammen, ließ die Arme und den Kopf hängen und sagte wortwörtlich:
»Eigentlich wollte ich sie beide umbringen. Aber dann habe ich mich nicht getraut, auch den Vater zu töten, weil ich ihm in die Augen hätte schauen müssen. Bei der Mutter habe ich gar nicht hingeschaut, ich habe einfach zugeschlagen, hinterrücks.«
Er schien wie verwandelt. Aus dem scheinbar selbstbewussten, dreisten Lügner war ein Häuflein Elend geworden, das nunmehr kleinlaut ankündigte, die Wahrheit sagen zu wollen. Natürlich wusste ich, dass wir nicht die reine Wahrheit, sondern nur seine subjektive Wahrheit zu hören bekommen würden. Nur ganz wenige Beschuldigte geben die schonungslose Wahrheit wieder. Die meisten versuchen sich in irgendeiner Weise zu rechtfertigen für das, was sie getan haben. Manche beschönigen oder verharmlosen auch ihr Tun oder wollen zumindest die Brutalität ihres Handelns relativieren. Wieder andere beabsichti gen, die Schuld auf Dritte abzuwälzen und sich als das eigentliche Opfer darzustellen. Nichts anderes, so meine Einschätzung, war wohl von jemandem zu erwarten, der die eigene Mutter mit einem Schwertstreich enthauptet hatte. Blieb nur noch die Frage, was er als Rechtfertigung oder Ausrede vorbringen würde. Schlimmer konnte es schließlich nicht mehr werden. Erst die Mutter töten und dann den Vater der Tat bezichtigen. Doch es kam schlimmer.
Z ahlreiche Vernehmungen im Umfeld der Familie, die an diesem Abend parallel zu denen auf der Dienststelle durchgeführt wurden, ließen das Bild einer durchschnittlichen, gutbürgerlichen Familie entstehen. Keine finanziellen Sorgen, keine Gewalt, kein Alkohol, keine soziale Not. Nein, hier ging es um ein Einzelkind, das in geordneten Verhältnissen angst- und gewaltfrei in einem gewissen Wohlstand groß geworden war und alles hatte, was das Herz begehrte. René K. war allem Anschein nach mehr als wohlbehütet aufgewachsen. Nur an konsequenter Erziehung hin zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit hatte es wohl gefehlt.
Seine Eltern waren sich nicht einig in Erziehungsfragen. Insbesondere der Vater, dem es an Konsequenz mangelte, ließ dem Sohn alles durchgehen, meist hinter dem Rücken der strengeren Mutter. Diese führte in der Familie das Regiment, war nicht so nachsichtig wie der schon ältere Vater. Die Mutter achtete außerdem sehr auf das äußere Erscheinungsbild der Familie. Nie sah man den Buben schludrig gekleidet. Sauberkeit und Ordnung hatten oberste Priorität. Das verlangte sie auch von ihrem Sohn, wobei ihr Mann diese Bemühungen unterlief. Sobald sie außer Haus war, ging er ins Zimmer des Sohnes und räumte dort auf, um dem Buben die Bestrafung zu ersparen. Das brachte ihm jedoch keine Sympathien ein, sondern führte vielmehr dazu, dass ihn der Junge als Schwächling verachtete und seine Mutter gleichzeitig mehr und mehr
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