Unheilig (Die Chroniken der Schatten) (German Edition)
verschwunden waren, wagte er es wieder zu atmen und lehnte sich gegen das massive Bücherregal. Ihm perlte der Schweiß von der Stirn. Joe führte seine Gefolgschaft zum Gästezimmer und bemerkte mit leichtem Stirnrunzeln die verbogene Tür. Etwa zwei Meter davor blieb er stehen und ließ Amelie an sich vorbeigehen. Sie strich sachte mit der Hand über die Risse im Holz.
„So viel Wut“, hauchte sie. „Das ist traurig.“
Ihre Augen schweiften nach unten auf die dünne Spur des schwarzen Staubes, der eine gerade Linie am Boden bildete.
„Du sperrst sie ein?“, fragte sie ungläubig und bedachte Joe mit einem vorwurfsvollen Ausdruck, worauf dieser den Kopf senkte und schuldbewusst dreinsah.
„Ich...“, stammelte er, da er kaum die richtigen Worte fand. „Es war nur zur Sicherheit... Ich wollte nicht, dass sie wegläuft...“
„Genug!“, unterbrach ihn Amelie drohend. „Ich will keine Ausflüchte hören. Jonathan, darüber unterhalten wir uns noch!“
Joe fühlte sich unbehaglich und fürchtete sich auch ein wenig, doch er fügte sich und nickte. Amelie richtete ihren Kopf wieder nach vorne und sog die Luft ein. Sie spürte Zorn, Verzweiflung und Schmerz hinter dieser Tür. Mit dem eisigen Hauch ihres Atems blies sie die Barriere aus Grabesstaub hinfort, der sich daraufhin in sanften Wogen im Gang verteilte und drückte gegen die Tür.
Der Raum besaß kein Fenster, sondern bestand aus massiven Steinwänden. Eine kleine Lampe spendete etwas fahles Licht, das sich über einen schönen Ebenholztisch ergoss. Rechts an der Wand stand ein Bett in einem glänzenden Messinggestell, ansonsten gab es keinerlei Möbel. Kyra stand mitten im Raum, regungslos und angespannt. Amelie musterte sie nur kurz, dann sagte sie zu Jonathan:
„Victor und ich unterhalten uns allein mit ihr. Ich möchte, dass du wieder hinuntergehst und dort auf uns wartest.“
Dabei ließ sie Kyra nicht aus den Augen. Joe gefiel es nicht, dass er außen vor gelassen wurde, doch er wagte keinen Widerspruch und befolgte den Befehl sofort. Victor betrat nun ebenfalls das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. An der Innenseite war sie noch kaputter als außen. Es fehlte ein großes, rundes Stück Holz in der Mitte und Risse verliefen von innen nach außen über die Maserung. Victor stellte sich in die rechte Ecke neben der Tür und blieb dort schweigsam stehen. Amelie jedoch machte ein paar Schritte auf Kyra zu und lächelte dabei freundlich.
„Wer sind Sie?“, fragte Kyra und ein wenig Argwohn schwang in ihrer Stimme mit.
Diese Frau weckte in ihr ein Gefühl der Vorsicht. Sie war wunderschön, mit heller Haut und lockigen, dunklen Haaren. Ihre Kleidung wirkte adlig und vornehm und ihr Gang war nahezu schwebend. Trotzdem fühlte sich Kyra nicht wohl. Sie kam sich vor wie ein wildes Reh, das von seiner Jägerin in die Enge getrieben wurde.
„Bleiben Sie stehen!“, forderte sie unverblümt, da Amelie noch immer langsam auf sie zu schritt.
Und wundersamer Weise tat sie es tatsächlich. Amelie war überrascht, Victor empört über eine solche Respektlosigkeit, doch er sagte nichts. Amelie würde ihn schon rufen, wenn es nötig war. Die beiden Frauen starrten sich an, Kyra argwöhnisch, Amelie interessiert.
„Also“, sagte Kyra erneut. „Wer zum Teufel sind Sie?“
Amelies Lippen umspielte ein wissendes Lächeln.
„Jonathan hat dir nichts von mir erzählt“, stellte sie fest und lachte kurz auf. „Das ist typisch für ihn.“
Kyra verstand nichts von alldem.
„Mein Name ist Amelie. Ich bin Vorsitzende des Hohen Rates der Vampire und hier, weil es mich sehr danach verlangt, mit dir zu sprechen.“
Kyra starrte Amelie mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Sie sind vom Vampir-Rat?“, fragte sie. „Hat Joe mich an euch verpfiffen?“
Amelie empfand zusehends Sympathie für dieses Mädchen.
„So könnte man es ausdrücken“, sagte sie. „Er hat von dir erzählt. Viele unschöne Dinge, das will ich nicht leugnen.“
„Ich habe seit meinem ersten Gespräch mit Joe alle Regeln befolgt!“, verteidigte Kyra sich. „Diese Morde sind nicht meine Schuld! Mein Erzeuger hat mich allein gelassen! Woher sollte ich
wissen...!“
„Dein Erzeuger, ja, gut dass du das ansprichst“,
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