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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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dich niemand hören. Und der Rächer wird dann böse.«
    Als er ihr den schrecklichen Lappen über Nase und Mund legte, hatte er den Rächer schon einmal erwähnt. Wer war der Rächer?
    Während sie weiterhin heftig nickte, versuchte sie ihm mit den Augen zu sagen, was ihr Mund nicht sagen konnte.
    Behutsam zog er das Klebeband von ihrem Mund, zupfte sachte daran. Seine Zartheit gab ihr Mut. Schließlich war ihr Mund frei und sie versuchte, den widerlichen Geschmack auszuspucken. Ihre Zähne taten weh.
    »Warum machst du das, Mickey?«, stieß sie undeutlich hervor. »Was ist denn los mit dir?«
    »Ich habe nichts, Jane«, sagte er und trat zurück, die Arme in die Seiten gestemmt, die Augen immer noch weit aufgerissen. »Aber du. Mit dir ist etwas los.«
    »Wovon redest du überhaupt?« Ihre Stimme wurde schrill, der Zorn gewann die Oberhand über ihre Angst vor dieser verrückten Situation.
    »Nicht schreien – nicht rufen. Wenn du schreist, muss ich mit dir das tun, was ich mit Vaughn Masterson und meinem Großvater gemacht habe.« Er hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. »Klar, ich mach das sowieso mit dir, aber noch nicht gleich …«
    Sie musste ihn nicht erst fragen, was er mit Vaughn Irgendwer und seinem Großvater gemacht hatte. Das ließ sich mühelos an seinem Gesichtsausdruck erkennen, an seiner sachlichen Sprechweise, die grausiger war als sein teuflisches Lachen.
    »Warum, Mickey? Warum?« fragte sie wieder. Im Augenblick war keine andere Frage von Bedeutung. Wenn er auf diese Frage Antwort gab, wären damit alle ihre Fragen beantwortet.
    »Weil du mit ihm zusammen warst«, sagte er. Er sprach schmollend, war plötzlich ein Kind.
    »Mit wem?«
    »Mit deinem Freund.«
    »Buddy? Buddy Walker?«
    »Heißt er so? Ich kenne seinen Namen nicht, aber du warst mit ihm zusammen. Du bist Hand in Hand mit ihm gegangen. Und …« Er runzelte die Stirn; aus seinem Mundwinkel hing ein Sabberfaden. »Du hast ihn geküsst. Du hast deine Zunge in seinen Mund gesteckt …« Spuckte auf den Boden, als wollte er sich von etwas befreien, das ekelhaft war, mit einem widerlichen Geschmack.
    »Du bist böse auf mich, weil ich einen Freund habe und wir uns küssen?«, fragte sie erstaunt.
    »Nein, nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Du bist hübsch. Es ist nur recht und billig, dass du einen Freund hast.«
    »Weil ich ihn geküsst habe?« Sie versuchte, sich den genauen Wortlaut ins Gedächtnis zurückzurufen. »Weil ich seine Zunge mit meiner Zunge berührt habe?«
    »Das war nicht anständig«, sagte er. »Aber wenn du es tun willst, kannst du es tun …«
    »Warum bist du mir dann so böse?«
    »Weil er es ist!«, schrie er laut, stampfte mit dem Fuß auf. Sein Kinn bebte wie Wackelpudding in der Schüssel.
    Jane zerrte an den Fesseln und achtete nicht auf die schmerzhaften Hautabschürfungen, die sie sich dabei zuzog. Sie wurde jetzt ihrerseits laut. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Ihr Zorn gab ihr Auftrieb, so dass sie Hoffnung schöpfte und Zuversicht gewann. »Was, verdammt noch mal, faselst du denn da?«
    »Du sollst nicht fluchen, Jane«, sagte er. »Anständige Mädchen fluchen nicht.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Aber du bist kein anständiges Mädchen mehr, nicht wahr? Du warst mit ihm zusammen, deshalb kannst du nicht anständig sein …«
    So weit es die Wäscheleine zuließ, sackte sie auf ihrem Stuhl zusammen. Sie konnte ihren eigenen Schweiß riechen, ihre Haare waren feucht. Eine Strähne hing ihr über ein Auge. Sie pustete aus dem Mundwinkel, versuchte sie wegzublasen.
    Mickey streckte die Hand aus, strich ihr die Strähne aus der Stirn.
    »Er«, flüsterte er, das Gesicht jetzt ganz nah an ihrem Gesicht. Das Wort war mit so viel Hass erfüllt, wie eine einzelne Silbe nur enthalten konnte. »Er, Jane. Dein Freund. Einer von denen . Einer von denen, die damals bei euch im Haus waren. Ich hab sie gesehen, wie sie euer Haus verwüstet haben. Ich habe ihn gesehen. Ich war am Fenster und hab alles gesehen. Sie haben mich nicht gesehen, aber ich sie schon. Und er war einer von ihnen.«
    Buddy? Bei ihr zu Hause?
    »Sie waren wie die Tiere«, sagte er und zog sich ein Stück zurück. Er sprach jetzt schnell und die Augen quollen ihm noch weiter aus dem Kopf als zuvor. »Haben alles kaputt gemacht. Sind schreiend und lachend durch euer Haus gerannt. Wie die Tiere.«
    Sie schüttelte den Kopf, hörte sich »Nein, nein, nein« sagen. Wollte nicht wahrhaben, was dieser verrückte

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