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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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Straße. Er bewegte sich unbeholfen, presste beim Rennen drei Bücher an die Brust.
    »Du musst mitkommen, Jane«, sagte er. »Es handelt sich um einen Notfall.«
    »Was denn für ein Notfall?«, fragte sie. Kinder übertrieben immer, und Amos Dalton mit seinen Schnürschuhen, dieses Kind im mittleren Lebensalter, war da vermutlich auch keine Ausnahme.
    »Das kann ich dir nicht sagen – du musst es dir selbst ansehen.« Sein Kinn zitterte, die Lippen waren bläulich verfärbt. »Es geht um Leben und Tod.«
    Jane zögerte.
    Einerseits hatte sie es eilig, aber falls es doch ein Notfall war, wollte sie nichts Falsches tun.
    »Bitte«, flehte er, und als er seine Stellung veränderte, fielen seine Bücher auf den Bürgersteig. »Du musst kommen.« Er machte keine Anstalten, die Bücher aufzuheben. Amos Dalton, der Bücherwurm, hob seine Bücher nicht auf. Er musste wirklich verzweifelt sein.
    Er wandte sich ab, ging zögernd ein paar Schritte weiter, rief über die Schulter zurück: »Komm doch …«
    »He, was ist mit deinen Büchern?«
    »Zum Teufel damit«, sagte er und lief eilig weiter. »Bitte, komm …«
    »Gott, muss das wichtig sein«, murmelte Jane. Sie machte sich daran, ihm zu folgen, und sammelte dabei die Bücher auf. Zwei Taschenbücher im Stil von Stephen King, mit grausigen Titelbildern. Dazu eine Ausgabe von Tom Sawyers Abenteuer.
    »Wo wollen wir hin?«, rief Jane, als Amos Dalton den Abstand zwischen ihnen vergrößerte.
    »Nicht weit. Aber wir müssen uns beeilen.«
    An der Ecke von Arbor Lane und Vista Drive warf Amos Dalton ihr wieder einen raschen Blick über die Schulter zu und tauchte in ein von Gras und Buschwerk überwuchertes Stück Land ein. Das Schild Grundstück zu verkaufen war vom hohen Gras fast völlig verdeckt. In dem wilden Gestrüpp war Amos Dalton kaum noch auszumachen. Jane blieb am Rand des Grundstücks stehen und rief: »Hier geh ich nicht rein, solange du mir nicht gesagt hast, worum es geht …«
    Amos Dalton legte eine Pause ein. Über dem dichten Unterholz war sein Gesicht nur undeutlich zu sehen. »Es geht um Artie.« Seine Stimme klang etwas brüchig. »Irgendwas ist los mit ihm.« Plötzlich hörte er sich verzweifelt an.
    »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte Jane erschrocken. Ihr fielen Arties nächtliche Angstzustände ein, und sie folgte Amos Dalton auf das verlassene Grundstück, ließ alle Vorsicht fahren und mit der Vorsicht auch ihre Angst vor Schlangen, die hier möglicherweise auf dem Boden herumkrochen. Das Gras, noch nass von einem kürzlich niedergegangenen Regen, streifte ihr feucht gegen die Beine; ein schleimiges Gefühl, das sie erschaudern ließ.
    Amos Dalton stürmte voraus. Fast hätte sie ihn aus den Augen verloren. Eines der Bücher fiel ihr herunter, und sie sagte: »Ach zum Kuckuck, was soll’s.« Mit schwankenden Schritten ging sie durch das Gestrüpp. Es war, als watete man durch ein dreißig Zentimeter hohes Gewässer. Mit der Zeit schwand das Gestrüpp zu einem krummen Pfad, der zu einem verlassenen Gebiet führte; ein Wäldchen, in dem die Kinder der Nachbarschaft ihre geheimnisvollen Spiele spielten. Jane sah einen Schuppen mit verfallenem Dach, die Fenster mit Brettern vernagelt. Er war an einige Fichten angebaut, die in einer Gruppe beisammenstanden. Dieses Gelände hatte Jane nie erforscht. Es war ein Ort für Kinder, genau die Stelle, die Artie und die anderen aus dem Rudel widerborstiger Gören sich für ihre Vergnügungen und Spiele aussuchen würden.
    »Ich hoffe nur, du spielst mir keinen dummen Streich«, rief sie Amos zu. Ein Anflug von Ärger verringerte die Angst, die sie um Artie hatte.
    »Es ist kein Streich«, sagte Amos. Er blieb stehen, etwa drei Meter von ihr entfernt, und wandte sich zu ihr um. Dann zeigte er auf den Schuppen. »Er ist da drin …«
    Auch sie blieb stehen. Das Gelände war still. Keine Vogelrufe. Keine bellenden Hunde. Kein Wind, der in den Blättern raschelte. »Artie«, rief sie. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Keine Antwort. Sie trat ein paar Schritte vor.
    »Hier drin«, drang eine Stimme aus dem Schuppen an ihr Ohr. Eine gedämpfte Stimme, voller Qual, vielleicht Schmerzen. Könnte Arties Stimme sein. »Schnell …« Das Wort brach mit einem erstickten Laut ab, ging in eine Art Keuchen über.
    Instinktiv rannte sie zum Schuppen. Wenn Artie Probleme hatte oder in Gefahr war, konnte sie sich nicht einfach abwenden oder ihn im Stich lassen. Am Rand ihres Gesichtsfelds nahm sie wahr,

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