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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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ihr Verstand funktionierte, wie er sich über den Gestank erhob, der sie umgab, der von ihr ausging . Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Er hat mir gesagt, dass ich mich vorsehen soll. Ich glaube, er hat Verdacht geschöpft, Mickey. Er sagte, wenn ich in zehn Minuten nicht wieder herauskäme, würde er die Polizei holen …«
    Mickey legte den Kopf schräg, musterte sie jetzt anders, nicht mehr wie ein Wesen aus dem Zoo.
    Er lächelte, ein breites Lächeln, bei dem seine Zähne zum Vorschein kamen. »Du glaubst, der Rächer ist nicht klug«, sagte er. »Du glaubst, du kannst ihn zum Narren halten …«
    »Ich will dich nicht zum Narren halten. Ich sag nur, was Amos Dalton gesagt hat.«
    Mickey nahm das Messer in die rechte Hand, zückte es, ließ die lange Klinge durch die Luft sausen. »Na, wenn die Polizei im Anmarsch ist, muss der Rächer sich beeilen.« Kichernd kam er näher. »Nicht wahr? Es ist ohnehin besser, wenn’s schnell geht. Dann tut es dir nicht so weh.«
    Er blieb stehen und sah sie an, stille Trauer im Gesicht, die Augen voller Bedauern. In diesem Augenblick erkannte sie, dass er sie wirklich töten würde. Wenn er weiterhin auf und ab gehüpft wäre, getobt, gekichert oder geschrien hätte – dann hätte sie noch Hoffnung für sich gesehen.
    Gib mir noch die Zeit, ein Gebet zu sprechen. Sie war im Begriff, diesen Satz zu sagen. Eine letzte Bitte. Die Panik lag hinter ihr, sie ergab sich in ihr Schicksal. »Nein«, rief sie aus, sträubte sich gegen ihre Panik, ihre Schicksalsergebenheit. Das durfte nicht sein. Ich bin sechzehn Jahre alt und werde nicht auf diese Weise sterben. Sie hatte Mickey Stallings vor sich. Nicht den Rächer, kein elfjähriges Monster. Sie musste ihm die Einsicht vermitteln, wer er wirklich war.
    »Weißt du, wie alt du bist, Mickey?«, fragte sie und gab sich alle Mühe, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
    »Ich bin nicht Mickey. Ich bin der Rächer.«
    »Das kann nicht sein. Der Rächer ist elf Jahre alt.«
    »Ich bin elf«, sagte er. Das Messer baumelte von seiner Hand herab, die Stimme klang schmollend.
    »Nein, bist du nicht.«
    »Bin ich doch.«
    Wie Kinder, die sich auf dem Schulhof zankten.
    »Weißt du, wieso du nicht elf bist?«
    Neugierig legte er den Kopf schräg. »Wieso?«
    »Wenn du wirklich elf wärst, würdest du nicht die ganze Zeit zu mir hersehen. Auf meine Bluse, meine Brüste.« Wie hypnotisiert von ihren Worten, schaute er auf ihre Brust. Ihr fiel ein, wie er mit dem Lappen in der Hand ihren Busen berührt hatte, und sie sagte: »Elfjährige Jungen tun das nicht. Aber du schon. Du tust es jetzt. Du betrachtest jetzt in diesem Augenblick meine Brüste.«
    Er wandte den Blick ab. Sie sah das schlechte Gewissen in diesen großen, weit aufgerissenen Augen.
    »Hast du mich berührt, wie du mich gefesselt hast? Hast du meinen Busen betatscht? Elfjährige Jungen tun auch das nicht. Wenn du es getan hast, bist du nicht der Rächer, bist nicht elf …«
    »Ich bin der Rächer«, sagte er, zutiefst erschrocken, und wieder quollen seine Augen hervor. »Ich bin der Rächer und übe Vergeltung für die schlimmen Dinge auf der Welt, und ich bin elf Jahre alt.«
    »Du bist vor langer Zeit elf Jahre alt gewesen, Mickey. Als du diesen Grobian umgebracht hast. Das war schlimm. Aber jetzt bist du nicht mehr elf. Und ich bin kein Grobian. Ich bin Jane Jerome und du bist Mickey Stallings …«
    »Ich bin …« Ihm fehlten die Worte. Er stockte, mit gerunzelter Stirn und offen stehendem Mund, die rosa Zunge flatterte gegen die Lippen, sein Blick schweifte zu ihrer Brust und gleich wieder davon.
    » Du hast deinen Großvater umgebracht«, sagte sie. »Das war nicht der Rächer. Du hast es getan. Mickey Stallings. Was würde deine Mutter sagen, wenn sie das wüsste? Deine Mutter wäre böse auf dich. Sie würde dich bestrafen.«
    »Nein«, rief er. »Nein.«
    »Doch.« Sie zerrte an der Schnur, mit der sie gefesselt war. Die Wangen steif von angetrocknetem Erbrochenem, die Handgelenke aufgeschürft, mit über die Augen fallenden Haaren und flammenden Augen. »Doch, doch, doch.« Jede Silbe brach einzeln aus ihr hervor, geboren aus ihrer Angst und ihrer Entschlossenheit und ihrer Verzweiflung. »Du hast deinen Großvater umgebracht … deinen Großvater, der dich liebte.«
    »Nein«, rief er wieder. Voller Qual, das Wort wie ein Heulen in der Luft … neieieieieieieieieiein … hallte durch den staubigen Schuppen … neieieieieieiein … lang

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