Unheilvolle Minuten (German Edition)
geht’s gut. Ich weiß, dass sie anrufen wird, sobald sie kann. Jetzt leg ich lieber auf. Vielleicht versucht sie jetzt in diesem Augenblick, mich zu erreichen …«
Er legte auf. Schaute auf das Telefon hinunter und wartete allen Ernstes darauf, dass es klingelte. Wartete. Stille im Haus. Ich brauche was zu trinken. Konnte jetzt aber nicht trinken. Musste fit und bei Sinnen bleiben, für den Fall, dass sie anrief und ihn an ihrer Seite brauchte. Komm bitte her, Buddy, mach schnell …
Er schaute auf die Uhr am Kaminsims. Zwanzig nach elf. Es wurde spät. Sie hätte anrufen müssen. Warum hatte sie es nicht getan?
Er nahm den Hörer auf, wählte ihre Nummer. Zählte nicht, wie oft es klingelte, sondern hörte nur zu. Einsame Töne. Niemand nahm ab. Vielleicht hatte er sich verwählt. Versuchte es noch einmal und wusste dabei, dass es sinnlos war. Die Worte des Nachrichtensprechers hallten in seinem Kopf wider: Die Familie hat sich in ruhige Abgeschiedenheit zurückgezogen. Wo war diese ruhige Abgeschiedenheit?
Ihn trieb das Bedürfnis um, irgendetwas zu unternehmen, und er überlegte, ob er in ihre Straße fahren sollte. Vielleicht hatte sie bei den Nachbarn eine Nachricht für ihn hinterlassen. Jetzt verfluchte er sich dafür, dass er mit ihren Freunden, ihren Nachbarn keine Bekanntschaft gesucht hatte. Für die Menschen ihrer Umgebung war er ein Fremder. Und überhaupt, wieso sollte sie eine Nachricht bei den Nachbarn hinterlassen, wenn sie ihn doch hätte anrufen können? Oder jemanden mit einer Botschaft zu ihm schicken? Er war den ganzen Abend zu Hause gewesen. Na gut, eine Weile hatte er geschlafen, aber er wäre davon aufgewacht, wenn das Telefon geklingelt oder jemand an der Tür geläutet hätte.
Warum hatte sie nicht angerufen?
Er unternahm keinen Versuch, diese Frage zu beantworten.
Mit einem Ruck fuhr er hoch, fühlte sich schmutzig in den Kleidern, in denen er gegen vier Uhr früh dann schließlich doch eingeschlafen war. Während der langen Nachtstunden hatte er unruhig vor sich hin gedöst. Hatte sich auf dem Sofa hin und her gewälzt, obwohl dort gar kein Platz zum Herumwälzen war. Gegen halb vier war er zu dem Ergebnis gekommen, dass sie ihn nicht anrufen würde. Was sollte er tun, wenn sie es nie mehr tat? Die Antwort kam ihm wie der Blitz, geboren aus seiner Verzweiflung. Und der Entschluss, den er fasste, ließ ihn schließlich in tiefen Schlaf versinken, der jedoch nicht tief genug und lang genug war.
Als er erwachte, schien die Sonne durchs Fenster. Er setzte sich auf dem Sofa auf, mit leichten Kopfschmerzen, einem schalen Geschmack im Mund. Ihm fiel ein, dass er sich keinen Drink genehmigt hatte; das einzig Gute an dieser schlimmen Nacht.
Er griff nach dem Telefon, eine automatische Bewegung, wählte ihre Nummer. Rechnete nicht damit, dass jemand abnahm, und es nahm auch niemand ab. Die Uhr zeigte zehn Minuten nach acht. Es wurde Zeit für das Einzige, was er unternehmen konnte, für den Plan, den er sich in der Nacht zurechtgelegt hatte.
Zwanzig Minuten später bezog er auf dem Parkplatz am Eingang zum Krankenhaus seinen Posten. Müde und verzagt beobachtete er den Eingang. Versuchte, nicht zu blinzeln. Versuchte, nicht zu denken. Blinzeln, denken. Kam sich sehr gescheit vor, weil ihm das Krankenhaus eingefallen war. Früher oder später würde jemand aus Janes Familie zu Karen gehen. Trotz allem, was mit Jane passiert war, würden sie Karen nicht vernachlässigen. Er setzte sich hinterm Steuer zurecht und machte sich auf eine lange Wartezeit, einen langen Tag gefasst. Warum hat sie nicht angerufen? Lieber nicht daran denken. Nicht blinzeln und nicht denken. Sie wird ihre Gründe haben. Aber was für Gründe? Und wenn … gib keine Antwort auf diese Frage. Kein Blinzeln und kein Denken.
Etwa eine Stunde lang sah er zu, wie Besucher kamen und gingen, hörte eine Sirene, als ein Krankenwagen vor dem Eingang zur Notaufnahme hielt. Jane hatte ihm gesagt, dass Karens Zimmer nach vorne zu lag, im vierten Stock, drittes Fenster von rechts. Weil Besuch für Karen ihm womöglich entgangen sein könnte, beobachtete er das Fenster, ob sich dort etwas tat, jemand den Vorhang beiseiteschob. Es tat sich nichts. Er gähnte gelangweilt. Bedauerte es, nichts zum Essen mitgebracht zu haben. Fragte sich, ob in der Eingangshalle der Klinik wohl ein Getränke-Automat war. Kam dann zu dem Ergebnis, dass er den Wagen und seinen Wachposten lieber nicht verlassen sollte.
Als irgendwo eine Hupe
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