Unheilvolle Minuten (German Edition)
gedehnt … Entsetzen und Tränen in dem Wort … neieieieieieiein … und Schmerz und vergebliches Sträuben … neieieieieieieiein …
Er sank zu Boden. Betrachtete das Messer, als sähe er es zum ersten Mal. Er hob die Hand, drehte sie nach oben und schnitt sich mit dem Messer ins Handgelenk. »Ich hatte meinen Gramps lieb«, sagte er. »Er ist mit mir ins Kino gegangen und hat mir Bonbons gekauft und dann haben wir Fressalien besorgt.« Er betrachtete das Blut, das aus dem Handgelenk quoll. »Der Rächer hat mich dazu gezwungen.« Sah Jane an, riesige Tränen in riesigen Augen. »Ich wollte es nicht tun.« Schaute dann wieder auf sein Handgelenk, von dem das Blut nun zu Boden tropfte. Er nahm das Messer in die andere Hand, vollführte die Handlung langsam und bewusst, sah seiner Hand dabei zu, und Jane hatte zu ihrem Erstaunen das Gefühl, zwei Menschen vor sich zu sehen, den armen, alten, sanften und freundlichen Mickey Stallings und den elfjährigen Rächer, der ihn umbrachte. Jetzt schnitt er sich ins andere Handgelenk und sah mit gelassener Neugier zu, wie das Blut hervorströmte. Der Schnitt war tiefer als der erste; wie aus einem kleinen Springbrunnen in seinem Fleisch schoss das Blut in die Luft. Er nahm das Messer und rammte es sich in den Bauch, wandte sich ächzend um und sah sie an. »Mommy«, sagte er, schaute zu Jane empor. »Mommy …« Seine Stimme versiegte. Das Blut breitete sich über sein Hemd aus, und der Blutgeruch – hatte Blut tatsächlich einen Geruch? – mischte sich unter den Gestank von Erbrochenem, den sie immer noch in der Nase hatte.
Sie sah zu, wie sein Leben dahinschwand, und als ihre Gedanken zu Buddy zurückkehrten, überkam sie das Gefühl, als schwände auch ein Teil von ihr dahin. Buddy, der sie verraten hatte.
»Jane«, murmelte Mickey. Er hob den Kopf, versuchte noch etwas zu sagen. Der Mund bewegte sich, in seinen Augen lag ein Flehen, und während sich auf seinen Lippen kleine Speichelblasen bildeten, stieß er Töne aus, die sie nicht verstehen konnte. Laute des Sterbens. Armer, bedauernswerter Mickey Looney.
Als er die Augen schloss, ging die Tür auf und zwei Polizeibeamte stürmten in den Schuppen, während draußen die Sirenen heulten. Die plötzliche Hektik machte Jane benommen. Sie sah Amos Dalton in der Tür stehen, mit seinen Schnürschuhen des mittleren Lebensalters, immer noch seine Bücher im Arm. »Entschuldige, dass es so lange gedauert hat«, sagte er und brach in Tränen aus.
Wir alle sind bedauernswert, dachte Jane, als endlich auch ihr die Tränen kamen.
Erst um elf Uhr abends erfuhr Buddy, was Jane durchgemacht hatte. Es war nicht geplant gewesen, dass sie sich an diesem Abend sahen. Jane wollte mit ihrer Mutter einen Bummel durchs Einkaufszentrum machen, um Sommerkleidung zu besorgen. Obwohl es Freitag war, hatte Buddy beschlossen, zu Hause zu bleiben und für die Schule zu arbeiten. Im Haus war es gespenstisch still. Seine Mutter hatte sich dieses Wochenende ausgesucht, um nun doch zu ihren Exerzitien zu fahren; nach langem Hin und Her, besprochen bei den Mahlzeiten, was im Vergleich zu ihren sonstigen Tischgesprächen geradezu eine Erleichterung gewesen war. »Wenn ich dort hinfahre, gebe ich dann die Kontrolle über mein Leben auf?« Das war die große Frage gewesen. »Nicht schlimmer als ein Besuch beim Therapeuten«, pflegte Addy darauf zu erwidern und Buddy unterstützte diese Haltung.
Addy wollte die Nacht bei einer Freundin verbringen, um die Probleme zu besprechen, die bei der Produktion ihrer Schulaufführung in letzter Minute aufgetreten waren. Sie hatte deswegen Gewissensbisse, und als sie ging, blieb sie an der Tür stehen, machte ein besorgtes Gesicht. »Mir geht’s gut allein – ich werde nicht trinken«, sagte er. »Daran hab ich nicht gedacht«, sagte sie. »Ich möchte nur nicht, dass du einsam bist.« Er nickte, wusste nichts zu sagen, war gerührt von ihrer Fürsorge.
Er spielte mit dem Gedanken, ins Einkaufszentrum zu fahren und Jane und ihre Mutter zu überraschen, ihnen vielleicht einen Kaffee im Friendly zu spendieren. Aber in Gegenwart von Janes Eltern war ihm immer noch nicht so ganz wohl, und so beschloss er, zu Hause zu bleiben. Erledigte den größten Teil seiner Schularbeiten. Machte sich einen Auflauf aus überbackenen Kartoffeln und Schinken warm, den seine Mutter vorgekocht hatte. Schlief über der Zeitschrift Time auf dem Sofa ein. Wachte um zwanzig nach zehn auf und staunte darüber, dass er so
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