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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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nach Hause bringen ließ, den Arm um sie gelegt. In ihrer Straße wimmelte es von Menschen, Autos, Fahrrädern, Gesichtern, die sie nicht kannte, und alle versuchten einen Blick auf sie zu erhaschen, als wäre sie ein seltenes Exemplar, das Forscher vom Mars mitgebracht hatten.
    Ihr Vater verfügte: Keine Interviews. Und er hielt Wort, trotz des Hagels von Fragen und der zornigen Reaktionen von Reportern und Fernsehleuten, die sich vor ihrem Haus drängten. Als sie einmal hinauslugte, erkannte sie einen Nachrichtensprecher vom Fernsehsender Wickburg. Nichts davon konnte sie jedoch erreichen. Sie war innerlich wie betäubt, selbst ihre Gedanken liefen verlangsamt ab.
    Alle tuschelten und in dem Getuschel hörte sie Wörter wie tapfer und heroisch , aber sie kam sich nicht tapfer und heroisch vor. Polizeichef Reardon aus Monument, der alte Golf-Kumpan ihres Vaters, traf zusammen mit ihren liebsten Verwandten ein, Tante Cassie und Onkel Rod. Die Familie rückte zusammen. Sie hörte ihre Mutter mit Zorn in der Stimme sagen: diese Gegend . Wir werden umziehen, dachte sie, aber die Worte waren ohne Bedeutung. Sie hatte noch keine Zeit zum Nachdenken gehabt, erst die Fahrt zur Untersuchung ins Krankenhaus, dann zur Polizei, wo sie Fragen beantwortete und Protokolle unterschrieb, schließlich die Heimkehr, in die Arme ihrer Mutter. »Ruh dich am besten erst mal aus, leg dich eine Weile hin«, hatte ihre Mutter gesagt. Aber sie wollte nicht ruhen, wollte sich nicht hinlegen, auch nicht für eine Weile, wollte nicht allein sein. Denn wenn sie erst alleine war, würde sie anfangen zu denken. Und sie würde an Buddy denken. Alle glaubten, dass sie von dem, was sie durchgemacht hatte, so betroffen war. Alle glaubten, dass sie wegen des armen Mickey Looney unter Schock stand, wie betäubt war. Aber es war immer nur Buddy. Buddy, der sie verraten hatte. Buddy, der erst ihr Haus und dann sie verwüstet hatte, sie geschändet hatte. Sie hatte ihn geliebt, hatte ihr Leben auf ihn und ihre gemeinsame Zukunft gebaut.
    Die Menschenmenge verharrte draußen vor dem Haus und sie saßen wie im Gefängnis. Polizeichef Reardon fand die Lösung des Problems. »Bringen wir sie für ein paar Tage von hier weg, bis sich der ärgste Sturm gelegt hat.« Er sprach wie die rauen Kerle in alten Filmen. »Kommt zurück nach Monument, meine Frau und ich besorgen eine Unterkunft.« Schließlich fuhren sie weg, zurück nach Monument, entwischten den Autos der Reporter. Im Hotel schluckte sie die Tablette, die Dr. Allison ihr gegeben hatte. Der Schlaf kam mit einer Woge von Blut.
    Jetzt saß sie auf der Bettkante, lauschte Arties Schlafgeräuschen, dem vertrauten Schnarchen ihres Vaters von nebenan. Sie war jetzt schließlich doch allein, wirklich allein. Mit ihren Gedanken. Ihren Gedanken an Buddy. Sie hatte niemandem gegenüber erwähnt, was Mickey Looney ihr von Buddy verraten hatte. Was Mickeys Motive für ihre Entführung anbetraf, hatte sie sich ahnungslos gestellt. Niemand übte Druck auf sie aus oder wurde misstrauisch. Es wurde ganz selbstverständlich angenommen, dass Mickey aus reinem Zufall auf sie gekommen war. Buddys Anteil an diesem Albtraum war ihr Geheimnis, das sie keinem Menschen je anvertrauen würde.
    Kurz bevor sie ihr Haus in Burnside verließen, hatte ihre Mutter gefragt: »Und was ist mit Buddy?«
    Sie hatte den Kopf geschüttelt. Konnte ihrer Stimme nicht trauen und sprach dann doch. »Ich ruf ihn später an«, sagte sie und wandte sich ab, weg vom erstaunten Gesicht ihrer Mutter. Ihre Mutter sagte nichts weiter, und falls sie Verdacht geschöpft hatte, so behielt sie das für sich.
    Als sie jetzt allein war, um drei Uhr früh, dachte sie an einen Satz von F. Scott Fitzgerald. In einer wirklich finsteren Nacht der Seele ist es immer drei Uhr morgens. Als der Lehrer diese Worte in der Klasse vorgelesen hatte, war sie davon nicht berührt gewesen, vermutlich deshalb, weil sie um drei Uhr früh nur selten wach gewesen war. Jetzt verstand sie die Trostlosigkeit jener Worte und wusste, wie es war, so allein, verlassen und verraten zu sein. Ach, Buddy, dachte sie. Du hast uns das angetan. Es hätte alles so wunderbar sein können.
    Sie kroch wieder ins Bett, griff nach dem Schalter der Lampe und war dankbar für die Dunkelheit. Sie dachte an Buddy, der zu Hause auf ihren Anruf wartete und sich wunderte, warum sie nicht anrief. Es war ein Trost für sie, sich seine Trauer vorzustellen. Sollte auch er traurig sein. An diesen Gedanken

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