Unheilvolle Minuten (German Edition)
Trauer in ihrer Stimme, eine Trauer, die neue Hoffnung in ihm weckte. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich von dir küssen und anfassen ließ. Und ich habe deine Küsse erwidert.« Bisher hatte sie die Arme lose herabhängen lassen, aber jetzt schlang sie die Arme um die Brust.
»Jane …« sagte er. Konnte jedoch nicht weitersprechen. Er hatte davon gehört, dass Menschen sprachlos wurden, und er wusste haargenau, was das bedeutete. Er wollte so viel sagen, sich verteidigen, selbst wenn es keine Verteidigung gab – aber er konnte nicht sprechen, fand die Worte nicht, und selbst wenn er sie fände, wüsste er nicht, wie er sie zum Ausdruck bringen sollte. Er wusste nicht einmal, wo er hätte beginnen sollen.
»Du bist zum Kotzen«, sagte sie und schauderte dabei, als würde ihr allein schon von der Wut in ihren Worten übel. »Ich möchte dich nicht hier im Haus haben, will dich nicht in meinem Leben haben. Du solltest nur noch dieses eine Mal hierherkommen. Und jetzt verschwinde. Aus meinem Haus. Aus meinem Leben …«
Brach ihre Stimme bei diesem letzten Wort?
Er wusste es nicht. Wusste nur, dass er Jane sagte, und war sich hinterher nicht sicher, ob er ihren Namen laut ausgesprochen oder es nur versucht hatte. Konnte sich im Nachhinein nicht erinnern. Erinnerte sich nur an die bleiche Wut in ihrem Gesicht, an ihre Augen, in denen nicht Feuer flammte, sondern Eis. Erinnerte sich daran, wie er stumm vor ihr stand, völlig betäubt, sich dann umwandte und zur Tür stürzte, die noch offen stand. Sich von Jane abwandte, die er mit solcher Verzweiflung und Sehnsucht liebte. Und rannte, rannte, den Vorgartenweg entlang, zum Auto. Denn er wusste, dass er schuldig war, wusste, dass er zu den Bösen gehörte, den Schurken.
Als Harry Flowers anrief, war sie nach einem Besuch bei Karen gerade vom Krankenhaus nach Hause gekommen.
Im Grau-in-Grau ihres Lebens waren die Besuche bei Karen ihre einzigen Augenblicke von Licht und Freude – oder vielleicht nicht gerade Freude, aber doch Abwesenheit von Trauer. Seit sie wieder sprechen konnte, redete Karen ohne Punkt und Komma, ganz erfüllt von Plänen, ihr Leben wiederaufzunehmen, neue Kleider einzukaufen, alle ihre Freunde wiederzusehen. Ihr Zimmer im Krankenhaus war voller Geschenke, die sie von den Leuten aus ihrer Klasse erhalten hatte. An der Anschlagtafel hingen verrückte Karten mit Wünschen zur baldigen Genesung, über ihrem Bett schwebten Luftballons und überall waren Blumen. Karen sonnte sich in der allgemeinen Aufmerksamkeit, aber manchmal glitt ein Schatten über ihr Gesicht. Sie konnte sich immer noch nicht erinnern, was an jenem Abend passiert war. Ihre Erinnerung reichte nur bis zu dem Punkt, als sie die Tür geöffnet hatte und ins Haus getreten war; danach ließ ihr Gedächtnis sie im Stich. Jane war dankbar dafür.
Außerdem war sie dankbar dafür, dass ihre Entführung und die anschließende Befreiung so schnell aus den Zeitungen und Fernsehnachrichten verschwunden waren. Mickey Stallings hinterließ keine Angehörigen und seine früheren Verbrechen hatten sich vor dreißig Jahren in einer Kleinstadt in Maine zugetragen, fünfhundert Meilen von hier entfernt – das trug dazu bei, dass die Geschichte schon bald in Vergessenheit geriet. Die Medien verloren ihr Interesse an Jane und Amos Dalton, als es keine Interviews gab und Amos zu Verwandten nach Indiana verfrachtet wurde. Armer Amos. Zuletzt hatte er dann doch noch den Mut gefunden, das einzig Richtige zu tun. Eines Tages, wenn er zurückkam, würde sie ihm sagen, wie tapfer er gewesen war.
In der Familie sprach niemand von der Zukunft, ob sie in Burnside bleiben oder fortziehen wollten. Jane war überzeugt davon, dass sie bleiben würden. Als sie eines Nachmittags an Arties Zimmer vorbeiging, hörte sie wieder das gespenstische Piepsen und Knallen seiner Videospiele und ertappte sich dabei, dass sie lächelte.
Am Abendbrottisch brachte Artie das Thema zur Sprache. »Ziehen wir um, Dad?«, fragte er stirnrunzelnd, zog eine seiner schauerlich widerborstigen Grimassen. »Das entscheiden wir später«, sagte ihr Vater. »Wenn Karen aus dem Krankenhaus entlassen wird …« Und mit einem zärtlichen Blick zu Jane: »… und Jane mit ihren Gefühlen ins Reine gekommen ist …«
Jane hatte keine Gefühle, mit denen sie ins Reine kommen müsste. Das war das Problem. Was sie mit Mickey durchgemacht hatte, war seltsam unwirklich geworden, als wäre es
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