Unheimliche Begegnungen (German Edition)
Varus.
Vanessa bekam Angst um ihren Bruder: „Nehmt es ihm nicht übel. Das hat er nur das alles gesagt, weil er Angst vor euch hat. Das macht er immer. Er redet, wenn er Angst hat, wirres Zeug.“
„Er hat uns beleidigt. Wir müssen ihn bestrafen. Du wirst ihn töten“, sagte Varus in einem barschen Ton.
„Niemals bringt ihr mich dazu, meinen Bruder zu töten“, entgegnete das Mädchen.
„Du wirst ihn töten. Glaube es mir. Ehe du bis zehn zählen kannst, hast du es vollbracht“, sagte diesmal Vitis.
Vanessa spürte einen Druck in ihrem Kopf. Sie bemerkte, wie immer mehr ihre Gedanken beeinflusst wurden. Sie erkannte, dass jemand versuchte, in sie einzudringen.
Bloß nicht nachgeben. An etwas anderes denken, sinnierte sie. Ich bin Vanessa, mich kann keiner kommandieren. Ich bin ich, dachte sie. Ich muss zu Tom. Ich muss an seine Seite. Nur im Unterbewusstsein war ihr klar, dass sie bereits neben ihm stand. Ich werde ihm einen Schubs geben. Lieber einen schnellen Tod als diese Quälerei. Sie versuchte sich dagegen zu wehren, aber sie berührte fast den Körper ihres Bruders. Dann war es so weit. Sie konnte nicht mehr widerstehen, sie kannte nur noch ein Ziel, Tom in die Tiefe zu stoßen.
Doch unerwartet wurden ihre Gedanken wieder in eine andere Richtung gelenkt. Der Wunsch, Tom zu töten, war wie weggeblasen. Erschrocken wich sie einen Schritt von ihm zurück. Sie strauchelte und wippte am Abgrund hin und her. Vinc konnte sie noch in letzter Sekunde an der Hand fassen und zu sich ziehen, sonst wäre sie hinabgestürzt.
„Was soll das?“, fragt er Vanessa.
„Die können in die Gedanken eindringen. Ich hätte beinahe Tom umgebracht“, sagte sie mit erregter Stimme.
„Daran seht ihr unsere Macht“, sagte Varus.
„Wenn ihr die Gedanken beeinflussen könnt, warum befehlt ihr nicht, uns gegenseitig runterzuschubsen?“, fragte Vinc. Er wollte Zeit gewinnen, aber sie auch dadurch aus der Reserve locken.
„Weil immer jemand übrig bleiben würde. Wer stößt denn dann den Letzten runter?“, fragte Vitis.
„Nun aber Schluss!“, befahl Varus ungeduldig. „Hier ist das Licht. Du musst nun den Beweis deiner Liebe antreten.“ Er gab Vanessa eine kleine Funzel.
„Das soll ein Irrlicht sein?“, fragte sie verwundert. „Das ist eine gewöhnliche Öllampe.“
Doch, als sie die vermeintliche Funzel nehmen wollte, griff sie ins Leere.
„Öffne deine Handfläche“, hörte sie Varus sagen. Nachdem sie der Aufforderung nachgekommen war, tanzte ein Flämmchen auf ihrer Handfläche. Es tat nicht weh, wie es bei einem offenen Feuer und der Berührung mit der Haut sonst üblich wäre. Daran erkannte Vanessa, dass es ein besonderes Licht sein musste. Die Sicht im Umkreis war nicht sonderlich weit. Sie schätzte, dass es wohl nur drei Schritte waren.
„Dann werde ich mal losgehen. Bleibt dicht hinter mir“, sagte sie zu Tom und Vinc, die sie fast nicht mehr sehen konnte.
„Du irrst. Du sollst deinen Liebsten vor dir lenken. Dein Bruder kann hinter dir bleiben“, ordnete Varus an, der sich ebenso wie Vitis außerhalb des Lichtkreises befand.
Vinc wunderte sich wieder, warum sie Kenntnisse besaßen, dass er und Vanessa ein Liebespaar wären und Tom ihr Bruder.
Vanessa ließ Vinc vorangehen. Nur fragte sie sich, wie sollte sie, das Zeichen der Liebe erkennen und wie Vinc leiten, wenn das Licht nur bis zu seinem Rücken leuchtete. Da sah sie etwas Seltsames: In knapper Entfernung vor Vinc funkelte ein rotes Herz. Nun wusste Vanessa, was mit dem Zeichen der Liebe gemeint war. Würde sie Vinc zu diesem Mal leiten, dann würde er wohl nicht abstürzen. Aber ihr ging ein Satz nicht au dem Kopf, den Varus sagte: „Zweifelst du an deiner Liebe zu ihm, dann werden er und dein Bruder in die Tiefe stürzen.“
„Gehe auf das Herz zu!“, befahl sie Vinc, in der Annahme, dass er es auch sehen müsste. Doch sie irrte sich, was auch in seinen Worten deutlich wurde: „Welches Herz? Ich sehe keins.“
Vanessa wusste nun, dass nur sie es wahrnehmen konnte. Sie lotste ihn darauf zu. Auf einmal tanzten auf ihrer Handfläche mehrere Lichter. Je zahlreicher sie wurden, desto mehr verkleinerten sie sich. Die Herzen vor Vinc wuchsen ebenfalls in der Zahl und vermehrten sich zu beiden Seiten. Sie war verwirrt. Und da kam ihr das Wort Irrlichter wieder in den Sinn und deren Bedeutung. Sie sollte verwirrt und irregeführt werden.
Dann sah sie etwas Entsetzliches. Ganz deutlich erblickte sie einen Pfeil, der auf Vinc
Weitere Kostenlose Bücher