Unmoralisch
macht’s doch keinen Spaß.«
Heather ließ sich erweichen. »Steine und Äste darfst du aufheben, aber nichts von Leuten, ja? Wenn du nicht weißt, was es ist, lässt du es liegen.«
Lissa zuckte die Achseln. »Okay.«
Mutter und Tochter gingen ihrer Wege. Anfangs behielt Heather Lissa noch im Auge, während sie durch die Büsche streifte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass der Kleinen nichts passieren würde, begann sie, die Aufnahmen vorzubereiten. Sie ging ein Stück ins Feld hinein, um eine interessante Perspektive zu finden. Als sie sich gerade für eine Stelle entschieden hatte und ihre Ausrüstung aufbaute, sah sie Lissa hinter die Scheune laufen.
»Sei vorsichtig dahinten«, rief sie ihr zu. Lissa rief etwas zur Antwort, das Heather nicht verstand. Sie kniete sich hin, schaute durch den Sucher und sah zu, wie das Bild Gestalt annahm. Die Sonne stand hinter ihr, etwa auf Höhe der höchsten Baumwipfel. Heather spürte ein Flattern in der Magengegend, und ihre Finger zitterten. So war es immer, wenn sie wusste, dass sie genau das bekommen würde, was sie wollte. Sie nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um noch einmal das Licht zu prüfen und die Belichtungszeit anzupassen. Dann drückte sie endlich auf den Auslöser, einmal und noch einmal, und lauschte dem mechanischen Surren, mit dem der Film jedes Mal ein Stück weiter transportiert wurde.
»Mami!«, rief Lissa hinter der Scheune. »Komm mal gucken!«
»Gleich, Schätzchen«, rief Heather.
»Guck mal, guck mal, guck mal«, schrie Lissa. Sie kam hinter der Scheune hervorgerannt.
»Lissa, Mami hat zu tun. Was ist denn?«
»Guck, was ich gefunden habe. Ist das nicht schön?«
Heather hob den Blick gerade so lange von der Kamera, um zu sehen, dass Lissa ein goldenes Armband in der Hand hielt. »Wo hast du das gefunden, Schätzchen?«
»Hinter der Scheune.«
Heather runzelte die Stirn. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nichts aufheben? Zumindest nichts von Leuten?«
»Ja, aber das ist doch was anderes«, verteidigte sich Lissa.
»Und warum ist das was anderes?«
»Das ist nicht gefährlich. Ist doch nur ein Armband.«
»Ja, und zwar ein Armband, das jemandem gehört, der wahrscheinlich schon danach sucht«, sagte Heather. »Leg es wieder dahin zurück, wo du es gefunden hast.«
»Darf ich’s nicht behalten?«
Heather seufzte. So war es jedes Mal, wenn Lissa ein Schmuckstück sah. »Nein, du darfst es nicht behalten. Es gehört jemand anders. Leg es zurück.«
»Aber das will doch bestimmt keiner mehr«, protestierte Lissa. »Es ist doch ganz dreckig.«
»Warum willst du es denn dann?«
Darauf fiel Lissa zunächst keine Antwort ein. Sie dachte nach. »Ich kann es ja sauber machen«, sagte sie dann.
»Das kann die Besitzerin auch. Und jetzt Schluss damit. Du legst es zurück.«
Lissa gab auf und machte sich niedergeschlagen auf den Weg zurück hinter die Scheune. Erleichtert wandte Heather sich wieder ihrer Kamera zu. Sie schaute noch einmal durch den Sucher.
Perfekt.
Hinter der Scheune legte Lissa das Armband widerwillig an die Stelle zurück, an der sie es gefunden hatte, mitten im Matsch am Rand des Feldes. Irgendwie kam ihr das unfair vor. Sie konnte einfach nicht glauben, dass noch jemand kommen und danach suchen würde.
»Aber Mami hat’s gesagt«, murmelte sie vor sich hin.
Nachdem sie das Armband zurückgelegt hatte, ging Lissa weiter auf Entdeckungsreise. Sie hatte schon eine beachtliche Sammlung zusammengetragen, verschiedene interessante Steine und ein paar hübsche blaue Blumen, und hatte alles in ihre Manteltaschen gestopft. Sie merkte gar nicht, wie es immer später wurde. Es schien kaum eine Minute vergangen zu sein, als sie hoch schaute und sah, dass die Sonne schon hinter den Bäumen verschwunden war.
Dann hörte sie auch ihre Mutter rufen. »Lissa, komm jetzt, wir müssen los!«
Ausnahmsweise ließ Lissa sich das nicht zweimal sagen. Sie lief über das Feld zurück, auf die Scheune zu. Dabei kam sie an dem matschigen Fleck vorbei, wo sie das Armband gelassen hatte.
»Lissa!«, rief ihre Mutter noch einmal.
Lissa überlegte. Sie wollte das Armband unbedingt haben, und eigentlich war es sehr nachlässig von der Besitzerin, es einfach hier zu verlieren. Außerdem konnte sie es ja auch mitnehmen, sauber machen und es für die Besitzerin aufheben, falls die es tatsächlich wiederhaben wollte. Vor allem, da sie immer noch der Ansicht war, dass die Besitzerin es einfach weggeworfen hatte.
Mami konnte so was nicht
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