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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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wichtig wie nichts anderes gewesen: Todesrituale. Er lächelte, wenn er daran dachte, welch ein merkwürdiger Zufall es war, dass Möllers erster Film sich ausschließlich mit Todesritualen beschäftigte. Und dass der Regisseur bald selbst und ganz höchstpersönlich der Protagonist seines eigenen Todesrituals sein würde. Während seiner letzten Lebensminuten. Während er lodernd brannte.
     
    Wütend und ungeduldig hatte Tim Möller den Pyrotechniker nach Hause geschickt und das Feuer selbst gelegt. Seither brannte das Feuer auch in seinem Herzen, und das würde es so lange tun, bis er Möller den Flammen und damit seiner gerechten Strafe überantwortet hätte. Zwar hatte er noch keinen konkreten Plan gemacht, aber er wusste, dass seine Stunde bald kommen würde.
    Die Polizei hatte später einen Unfall mit Todesfolge festgestellt, aber er wusste es besser. Keiner der Beamten hatte seinerzeit genau untersucht, welche Schuld oder Mitschuld jeder Einzelne der vier Beteiligten trug. Vor Gericht wurde keiner zur Rechenschaft gezogen. In der Presse war etwas von der Verkettung unglücklicher Umstände zu lesen, und das war’s dann auch schon.
    Möllers Film damals war eine gespielte Dokumentation, in der er verschiedene Begräbnisrituale von Studenten nachstellen ließ. Felix hatte ihn beschwatzt, seinen kleinen Bruder mitzubringen und als Statist auftreten zu lassen. Eigentlich hätte er gern selbst eine kleine Rolle gehabt, aber sie brauchten nur noch ein Kind für den isländischen Ritus. Das tote Kind sollte in einem großen Schlussbild in der Abenddämmerung allein in einem brennenden Boot hinaus auf den See treiben – Wind und Wellen überlassen und von den Hinterbliebenen keines Blickes mehr gewürdigt.
    Dass Fabian als eingewickelte Leiche in dem brennenden Boot liegen sollte, hatte Möller ihm so nicht gesagt. Er hätte natürlich auch eine Puppe nehmen können, aber Felix fand, genau wie der Regisseur, es wirke viel authentischer, wenn ein echtes Kind im Boot läge. Der Schauspieler legte sich richtig ins Zeug mit seinen Argumenten und meinte, der Junge käme noch groß raus, er habe das Zeug dazu. Er hatte sich schließlich breitschlagen lassen und damit einverstanden erklärt, seinen kleinen Bruder dafür zur Verfügung zu stellen. Obwohl er von Anfang an ein ungutes Gefühl bei der ganzen Unternehmung hatte.
    Da das kleine Team nur zwei Scheinwerfer besaß und es bereits anfing, dunkel zu werden, trieb Möller sie zur Eile an. Eine gute Stunde hatten sie noch, doch in dieser einen Stunde mussten sie es schaffen. Außerdem war das schmale Budget längst überzogen, und Möller stand kein weiterer Drehtag mehr zur Verfügung.
    Alle anderen Szenen waren bereits im Kasten: die ägyptischen Begräbnisrituale, die muslimische Erdbestattung und die Luftbestattung der Tibeter. Es fehlte nur noch die Feuerbestattung der Wikinger.
    Die ersten Einstellungen waren schnell gemacht: der See in einer Totalen, ein Schwenk hin zu Fabian, das in Leintücher eingewickelte tote Kind, eine Nahaufnahme von seinem Gesicht. Tapfer hielt der Kleine seine Augen geschlossen und versuchte, die Lippen nicht zu bewegen, wie Möller es gefordert hatte.
    In einer kurzen Szene legten Kapuzenmänner ihn für seine letzte Fahrt ins Boot. Ein stummes Gebet, unter das Möller später sakrale Musik legen wollte. Was sie nun noch brauchten, war die letzte Einstellung – die Totale, wie das in Flammen stehende Holzboot auf den See hinaustrieb und schaukelnd im diesigen Licht verschwand.
    Claudia hatte Fabian die Leintücher in mehreren Lagen stramm um den Körper gewickelt, die Arme dabei fest an die Seiten gepresst, damit er nicht so viel herumzappelte. Nachdem Möller in seiner Überheblichkeit den Pyrotechniker vertrieben hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als selbst die Brennpaste über die Seitenwände des Bootes zu streichen. Anschließend wischte er sich die Hände an der Jeans ab und brüllte: »Wir drehen das mit einer Schlussklappe!«
    Dann legte er Feuer und gab dem Boot einen Stoß. Es trieb etwa dreißig Meter aufs Wasser hinaus, ein Wind frischte auf, die Flammen loderten, und die Kamera lief.
    Er hörte noch Möllers jubelnden Ruf: »Super! Danke! Feierabend, Drehschluss!«
    Aber das brennende Boot trieb weiter hinaus. Er stand da und sah, wie die Flammen loderten. Höher und höher.
    Weshalb so lange? Sie würden doch spätestens nach gut einer Minute verlöschen, hatte Möller ihm und Fabian zuvor mehrfach

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