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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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nicht sehr überzeugend klang.
     

48
    N achdem er den Kleinen am späten Abend wieder nach oben geholt hatte, schob er die Pizza in den Ofen und fragte ihn: »Was würdest du tun, wenn ein paar Leute deinen Bruder umgebracht hätten?«
    »Ich hab keinen Bruder.«
    »Ich sage ja auch nur, wenn du einen Bruder hättest?«
    »Kleiner oder größer als ich?«
    »Was spielt das für eine Rolle?«
    »Wenn er kleiner ist, muss ich ihn verteidigen. Wenn er größer ist, muss er das bei mir tun.«
    Er lachte. »Also sagen wir mal, dass er jünger ist.«
    »Dann würde ich die Mörder ganz laut anschreien.«
    »Was würdest du denn schreien?«
    »Ihr seid so gemein. Ihr müsst euch bei mir entschuldigen, sonst …«
    »Sonst was?«
    »Sonst bin ich echt böse mit euch.« Manuel schaute grimmig, als hätte er die Mörder vor sich auf dem leeren Teller liegen.
    Er lachte wieder. »Und sonst nichts weiter?«
    »Doch, ich würde sie auch schubsen. Und hauen. Und es Paula erzählen.«
    »Deine Tante Paula würde dir helfen?«
    »Glaub schon.«
    »Hast du keine andere Lösung im Sinn?«
    »Was meinst du damit?«
    »Zum Beispiel so was wie ihnen eine Pistole vor die Nase halten.«
    »Na ja, wenn ich eine Pistole hätte, würde ich die Mörder sowieso erschießen. Das ist ja klar.«
    »Aber dann stecken sie dich ins Gefängnis.«
    »Nur, wenn sie mich fangen. Sonst nicht.« Manuel warf einen hungrigen Blick auf den Ofen. »Am Ende gewinnen doch immer die Guten?« Hoffnungsvoll blickte der Junge zu ihm auf.
    Er lächelte: »Todsicher. Und jetzt lass uns die Pizza essen.«
     
    Mitten in der Nacht wurde er wach. Wo nur konnte er die schwarze Mütze verloren haben? Sie war jedenfalls nicht zu Hause, wie er ursprünglich vermutet hatte. Egal, beruhigte er sich. Selbst wenn die Polizei sie gefunden hatte, diese Spur führte nirgendwohin. Die Mütze war nichts Besonderes, einfach nur eine schwarze Wollmütze, die er vor zwei, drei Jahren in einem Kaufhaus erworben hatte. Und Augenschlitze in einer Mütze waren ja nicht strafbar. Trotzdem ärgerte er sich über seine Unachtsamkeit.
    Dann spürte er dem harmonischen Abend mit dem Jungen nach. Wie sehr er Fabian nicht nur im Aussehen, sondern auch im Verhalten ähnelte. Wie der Kleine ihm langsam vertraute und keine Anstalten mehr machte wegzulaufen. Wohlig streckte er sich im Bett aus. Mit dem Jungen hatte er wieder Lebensmut geschöpft und konnte sich eine Zukunftsperspektive ausmalen.
    Vor langer Zeit hatte er lernen müssen, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Die Bilder von damals waren noch heute in seinem Kopf, als sei alles erst gestern passiert. Er hatte alles mit eigenen Augen gesehen und nichts vergessen.
    Fabian hatte für einen Jungen ein ungewöhnlich zartes Gesicht mit großen warmen Augen, blondes Haar und einen noch etwas pummeligen Körper, der nur darauf wartete, sich zu straffen und zu strecken, das konnte man bereits sehen. Wahrscheinlich wäre er eines Tages in die Höhe geschossen und hätte Model oder Sportler sein können, so anmutig und beweglich war er bereits als kleiner Junge. Aber noch waren seine Wangen kindlich rund und sein Körper weich.
    In der ersten Klasse brachte er sehr gute Leistungen, ohne dass er sich groß dafür anstrengen musste. Er war nicht besonders ordentlich, aber fröhlich und sportlich. Die Lehrer mochten ihn. Er sah noch Farben und hörte Töne, die sich längst vor jedem normalen Erwachsenen verbargen. Er erkannte Gerüche, die er selbst nicht wahrnehmen konnte, an die er sich erst wieder erinnern musste. Fabians Kopf war voll von Geheimnissen und wunderlichen Fragen. Den großen Bruder liebte er abgöttisch.
    Er war dabei gewesen, als sein kleiner Bruder sterben musste.
     
    Keine fünf Meter saß er von ihm entfernt und beobachtete alles ganz genau: wie Fabian von der Produzentin vorbereitet wurde und wie er seinen großen Bruder stolz anlächelte, als er sich von Claudia ins Boot helfen ließ. Es war der Abschlussfilm eines Studenten der Filmakademie in Berlin. Damals war Tim Möller nur irgendein Student für ihn gewesen, aber heute war er der Letzte auf seiner Liste.
    Lea, Felix und Claudia hatten das Opfer in dem isländischen Begräbnisritus, wie ihn einst die Wikinger pflegten, mit eigenen Augen brennen sehen. Dafür mussten sie nun bezahlen: mit ihrem Leben und ihren Augen. Wie in der Bibel geschrieben stand: Auge um Auge.
    Möller würde ihm letztlich dankbar dafür sein, denn das Thema war ihm damals so

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