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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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Sie diese Nachricht abgehört haben.«
    Paula drückte auf die Rückruftaste. »Wo?«, fragte sie einen Moment später mit bleichem Gesicht. »Ein kleiner blonder Junge? Ich komme sofort.« Sie verstaute ihr Handy. »Ich muss los«, sagte sie.
    »Wohin? Ich komme mit«, sagte Jonas. »Ich fahre dich.«
    Mit einem Schlag war die angenehme Stimmung vorbei, die sie mit Jonas den ganzen Abend über genossen hatte. Paula spürte in jeder Zelle ihres Körpers eine ungeheure Anspannung. Die Kollegen aus dem Team rief sie nicht gleich an. Sie wollte die Leiche zuerst selbst sehen.
     
    Nur noch wenige Menschen waren um diese Uhrzeit unterwegs. Schweigend saß sie neben Jonas im Wagen auf dem Weg zum Großen Spreering. Im Licht des Scheinwerfers war leichter Nieselregen zu sehen. Sie dachten beide das Gleiche, sprachen es aber nicht aus.
    Jonas fuhr weit besser als sie. Und viel schneller. Aber jetzt sah sie immer wieder auf den Tacho, wurde ganz zappelig vor Ungeduld, und bat ihn, schneller zu fahren.
    »Noch schneller?«, fragte Jonas.
    »Ja, bitte«, sagte Paula.
    Also gab er noch mehr Gas und überholte ein paar Fahrzeuge.
    Am Fundort des toten Kindes war die Nacht von Blaulicht erhellt. Ein rot-weißes Absperrband flatterte im Wind. Mehrere Polizisten liefen geschäftig umher, als Paula eilig ohne Jacke und Schirm aus dem Auto sprang, kaum dass der Wagen zum Stehen gekommen war.
    Ein junger Beamter führte sie zu der Leiche, während ein weiterer Polizist Scheinwerfer brachte, um den Fundort besser auszuleuchten. Der Nachthimmel war leicht bewölkt, Mond und Sterne waren nicht zu sehen.
    Mechanisch setzte Paula einen Fuß vor den anderen. Manuels Gesicht drängte sich ihr mit aller Macht auf. Jeder Schritt fiel ihr schwer. Sie rüstete sich für den Anblick seines vom Wasser aufgedunsenen Körpers.
    Dann sah sie die schwarze Plane und den toten Kinderkörper darauf. Der Junge mit den nassen blonden Haaren lag mit dem Gesicht zur Seite gewendet. Sie zwang sich, genau hinzusehen. Die Leiche war frisch, höchstens ein oder zwei Tage alt.
    Niemand sagte etwas. Nichts bewegte sich.
    Ein weiterer Polizeiwagen mit Sirene und Blaulicht kam im Schritttempo auf das Gelände gefahren. Sie ging näher an das tote Kind heran. Seine Lippen waren blau verfärbt, die Augen geschlossen. Erleichterung durchströmte sie wie eine heiße Welle. Der Kleine trug schwarze Jeans, dunkelrote All Stars und eine dicke Jacke mit dem Emblem von Hertha BSC. Es war nicht Manuel!
    Paula schüttelte fassungslos den Kopf und holte tief Luft.
    Jonas stand hinter ihr.
    »Er ist es nicht«, sagte sie. Sie hatte das Gefühl, ein Sack voller Steine sei von ihren Schultern gefallen. Noch nie habe ich mich beim Anblick einer Kinderleiche so erleichtert gefühlt, dachte Paula beschämt. Dann entfernte sie sich mit unsicheren Schritten ein Stück weit von den Scheinwerfern und ging in die Dunkelheit. Die Tränen, die sie dahin zurückgehalten hatte, kamen nun doch.
    Jonas holte ihre Jacke aus dem Wagen und legte sie ihr um die Schultern. Sie putzte sich die Nase, wischte die Tränen fort und verabschiedete sich von den Beamten, die bereits mit der Spurensicherung telefonierten.
     
    In dem Moment, als sie wieder im Wagen saßen und Paula noch immer um Fassung rang, klingelte ihr Handy. Es war Sandra, die von zu Hause aus anrief. Paula wartete, dass ihre Mailbox sich einschaltete. Sie konnte jetzt auf keinen Fall mit ihrer Schwester sprechen. Sie konnte ihr nicht sagen, wohin sie gefahren waren. Aber dann klingelte es erneut. Und wieder und wieder. Jonas blickte sie fragend an. Es hätte etwas passiert sein können. Sie musste abheben. »Hallo, Sandra, was gibt’s?«
    »Wo bist du?«
    »Unterwegs zu einem Einsatz.« Sie versuchte so normal wie möglich zu klingen.
    »Manuel?«, rief Sandra panisch.
    »Nein, nein, bitte beruhige dich. Es hat nichts mit Manuel zu tun.«
    »Manuel ist tot!«
    »Er ist nicht tot, Sandra! Was soll der Quatsch?«
    »Aber warum ist Jonas nicht zu Hause? Er hat doch keinen Dienst in der Klinik.«
    »Er hat mich zu dem Einsatz gefahren«, sagte Paula und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. »Bitte beruhige dich. Wir kommen gleich zurück. Wir sind schon unterwegs.« Sie legte auf und schaute geradeaus in die Nacht.
    »Alles in Ordnung?« Jonas schaute sie besorgt von der Seite an.
    »Ja, alles in Ordnung.« Paula hielt seinem Blick nur wenige Sekunden stand. »Ich bin nur erleichtert. Und todmüde.« Sie wusste, dass sie

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