Unschuldig
Witwe sah in ihrer Mädchenvorstellung irgendwie anders aus. Egal, wie schlimm etwas ist, hatte Paula vorwurfsvoll gedacht, Mama wird immer Haltung bewahren. Und sie hatte die Ressentiments gegen ihre Mutter bis heute bewahrt, auch wenn diese mit den Jahren zunehmend schwächer geworden waren.
Nachdem auch die Letzten in der langen Reihe kondolierender Trauergäste der Witwe und den verweinten Töchtern die Hände gedrückt hatten und die Mutter endlich aufhören konnte, ihr Vielen-Dank-ich-danke-Ihnen zu flüstern, nahm sie Paula fest an der einen und Sandra an der anderen Hand. Ihre Schritte waren zuerst langsam, wurden dann aber immer schneller, als sie an den welkenden Blumenbergen der frischen Gräber vorbei dem Ausgang zustrebten. Dabei klangen die Pumps der Mutter entschieden und laut auf dem asphaltierten Weg. Jetzt hörte sie ein leises Schlurfen und blickte sich um. Der Friedhofsangestellte hatte sich wieder an ihre Seite geschlichen. Ziemlich unpassend raunte er ihr zu, am Ende bliebe stets genau so viel Gewicht Asche von dem Menschen übrig, wie er gewogen hatte, als er zur Welt kam.
Paula wollte ihn mit der Bemerkung zum Schweigen bringen, dass Lea Buckow sich nicht hatte verbrennen lassen. Aber er brannte offensichtlich darauf, sein Beispiel zu vollenden: »Wiegt er als Baby drei Kilo, so bleiben vom verbrannten Leichnam ebenfalls genau drei Kilo übrig. Netto jedenfalls. Eventuelle Ersatzteile wie eine künstliche Hüfte oder Brustimplantate sind da nicht mitberechnet.«
Paula bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. Doch er lächelte sie fröhlich an, als er sagte: »Wir gehen, wie wir kommen.«
Auch lenkte Chris sie nun ab, die ihr den Ellbogen in die Rippen stieß, als sie unter den Gästen Katie Weimar erkannte. Sie schritt mit perfekt geschminktem und ernstem Gesicht vorüber. Ganz Diva, ganz Star, so wie man sie von unzähligen Fotos und aus ihren Filmen kannte.
»Die beiden neben ihr sind Hilmar Fürner und Carlo Strinetti.«
»Kenne ich nicht«, sagte Paula.
»Der Schauspieler und ein Schweizer Regisseur«, erklärte Chris.
»Und wer ist der Mann mit der Halbglatze dahinter?«, fügte Paula sich nun in das Spiel.
»Das ist der neue Leiter der Filmfestspiele in Cannes.«
»Woher weißt du das?«
»Ich lese Filmzeitschriften und Hochglanzmagazine. Außerdem hab ich einige Kontakte.« Als Chris sie erneut anstieß, nickte Paula. Den Regierenden Bürgermeister von Berlin kannte selbst sie. Kurz dahinter folgte der Innensenator, Paulas oberster Chef. An seiner Seite ging ein schwarz gekleideter Personenschützer, der sich zu Paula umdrehte, als hätte er ihren Blick bemerkt. Ihr schien es, als taxierte er sie kurz, um herauszufinden, ob sie eine Waffe trug. Das tat sie. Seit der Entführung von Manuel ging sie nicht mehr unbewaffnet aus dem Haus.
»Die beiden Frauen, die jetzt kommen, sind die Schauspielerinnen Marga Muson und Eliette Kramp. Dahinter kommt Melissa Morton. Die sieht ja ziemlich gealtert aus. Aber die geliftete falsche Blondine da, das ist die gefeuerte Fernsehredakteurin. Erinnerst du dich an den Skandal im letzten Jahr?«
Paula schüttelte den Kopf.
»Ging doch groß durch die Presse. Sie hat sich hochgeschlafen bis in die Führungsspitze des Senders und dann jahrelang zahlreiche ihrer Drehbücher unter verschiedenen Pseudonymen an den eigenen Sender verkauft. Und dann noch ihrer Freundin, der Produzentin, die Aufträge für die Produktion zugeschanzt. Haben beide super verdient daran.«
»Und die kleine Dicke hinter ihr?«
»Das ist ihre Freundin, die Produzentin. Die beiden sollen ein Verhältnis miteinander haben.«
»Was du alles weißt«, sagte Paula, wandte aber ihre Aufmerksamkeit den Leuten aus dem Filmteam zu, die sie von den Befragungen kannte und die den Schluss des Trauerzugs bildeten. Es waren Lea Buckows langjähriger Produktionsleiter Schaub und die Aufnahmeleiterin. Schaub war ganz in Dunkelblau gekleidet und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Neben ihm ging Verena Köster. Dann kamen der Regieassistent, der Kameraassistent, der Filmgeschäftsführer sowie zahlreiche flippig aussehende junge Leute aus der Filmcrew. Den Schluss bildeten die Assistenten Giftel und Gockel mit riesigen Sonnenbrillen im Gesicht. Chris und Paula schlossen sich den beiden an. Wo ist eigentlich der Regisseur Möller?, dachte Paula und blickte sich suchend um. Aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Vielleicht steckte er bereits in einer neuen Produktion. Trotzdem kam es ihr
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