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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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seltsam vor, dass er nicht an der Beerdigung teilnahm.
    Der Vorsitzende des Filmproduzentenverbandes sprach ein paar Worte am offenen Grab. Er hob Lea Buckows unternehmerische Erfolge und ihre Verdienste um das nationale Filmschaffen hervor, nannte die Preise und Auszeichnungen, die sie im Laufe ihres Berufslebens erhalten hatte, und stellte besonders ihre Großzügigkeit und ihren freundschaftlichen Umgang mit den Mitarbeitern in den Filmteams heraus. Namentlich erwähnte er viele Schauspielstars, die in ihren Filmen große Rollen gespielt hatten und Lea Buckow heute die letzte Ehre erwiesen. Er sprach auch von dem »tragisch zu Tode gekommenen« Felix Kleist, der heute besonders fehle in der großen und bunten Filmfamilie.
    Während weitere Trauergäste lobende Worte über Leben und Wirken der verstorbenen Filmproduzentin sprachen, hatten auf der anderen Seite des Friedhofs Fernsehteams und Fotografen auf einem Hügel Stellung bezogen. Uniformierte Beamte hielten sie von der Trauergemeinde fern.
    Auf dem polierten Holz des hellen Sarges mit Messingbeschlägen türmte sich ein Berg von weißen Schwertlilien. Er wurde mit einer Winde über das frisch ausgehobene Grab gehievt, dann versank er langsam in der Tiefe. Die ersten Schaufeln Erde waren dem Witwer und den Eltern vorbehalten.
    Schließlich nahm die gesamte Trauergemeinde endgültig Abschied. Auch Chris ging zum Grab, warf eine gelbe Rose hinein und kondolierte den Angehörigen. Sie wollte anschließend noch zum Empfang des Bürgermeisters und fragte Paula, ob sie mitkomme. Paula lehnte ab. Sie hatte dort nichts verloren. Und außerdem bot sich jetzt die günstige Gelegenheit, dem zweiten Catering-Mann, den sie unter den Beerdigungsgästen entdeckt hatte, ein paar Fragen zu stellen. Er gehörte zu den Leuten aus dem weiteren Umfeld der Filmcrew, die sowieso noch befragt werden sollten. Tommi hatte ihr auch seinen Namen gesagt, wie war er noch gleich?
     

52
    E r trug einen schwarzen Anzug, nichts Besonderes, aber dem Anlass angemessen. Sein frisch gewaschenes Haar war im Nacken zusammengebunden, die Augen versteckt hinter den dunkel getönten Gläsern seiner Hornbrille.
    Er hasste Beerdigungen. Doch er war es sich und auch Fabian schuldig, an der Beisetzung von Lea Buckow teilzunehmen.
    An die Tage damals zwischen Fabians Tod und seiner Beerdigung konnte er sich kaum erinnern. Alles war für ihn unwirklich, und auch die Beerdigung war ein Schauspiel gewesen, an dem er wie betäubt teilgenommen hatte. Sobald die letzten Freunde und Trauergäste verabschiedet waren, füllte nichts mehr die Leere, die der Tod seines Bruders hinterlassen hatte. Er hatte eine Flasche Rotwein getrunken und zwei Schlaftabletten geschluckt, bis er im tröstenden Schlaf für kurze Zeit alles vergessen konnte.
    Mit der Hand fuhr er sich durch das halblange Haar. Selbst diese Geste versetzte ihm einen Stich. Fabian hatte es besser gefallen, wenn er das Haar ganz kurz trug. Er war gern mit seinen Fingern hindurchgefahren. »Mein Bruder ist ein Igel«, hatte er im Kindergarten gesagt. »Mein Gott, Fabi«, seufzte er leise. Aber das Bedürfnis, ihn zu sehen, mit ihm zu reden und sein Lachen zu hören, war nicht mehr ganz so überwältigend, seit er den Kleinen hatte. Zuvor war es, als hätte jemand dort Löcher in die Welt geschnitten, wo Fabian hätte sein sollen. Nun aber kümmerte er sich um den Jungen, kochte für ihn und schaute sich mit ihm gemeinsam Filme an. Der bohrende Schmerz über Fabians Abwesenheit war ein wenig schwächer geworden, seit er mit dem Jungen lebte. Seine Trauer hatte an Heftigkeit verloren. Er liebte den Kleinen und vermisste Fabian, aber längst nicht mehr so stark wie früher.
    Verstohlen wischte er seine Augen unter der Brille. Die meisten Trauergäste trugen Sonnenbrillen. Jedenfalls die Prominenten. Er wäre auch gern Schauspieler geworden, hatte es aber damals nicht an eine der renommierten Schauspielschulen geschafft. Nach vier Versuchen hatte er es schließlich aufgegeben. Eine Zeit lang hatte er beim Film als Fahrer gejobbt, wurde auch mal als Location Scout für eine Produktion eingesetzt. Irgendwann kam dann tatsächlich »die große Chance«, für einen erkrankten Kleindarsteller einzuspringen. Konsequenzen hatte das allerdings keine. Somit war’s das dann auch schon gewesen.
    Das Gelaber des Pfarrers ging ihm auf die Nerven. Er kannte wahre Traurigkeit in- und auswendig, da brauchte er sich nichts sagen zu lassen. Eine Zeit lang hatte er gedacht,

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