Unschuldig
wirklich nicht mehr? Nach welchem Gesichtspunkt wählte der Täter seine Opfer aus? Warum entfernte er ihnen die Augen und deponierte Würmer in dem verstümmelten Gesicht? Um die Angehörigen zu quälen? Warum? Denn sie würden die entsetzlichen Bilder der verstümmelten Toten immer vor Augen haben.
Aufmerksam ging sie Seite für Seite durch und las konzentriert jeden einzelnen Satz. Bei der Auswertung der privaten Ordner von Claudia Borowski – sie hatte alles seit frühester Kindheit nach Jahreszahlen geordnet: Fotos, Briefe, Schulunterlagen, Eintrittskarten – fand sie mehrere alte Briefe von einer Freundin namens Hella aus Dresden. In einem der Briefe von vor über zehn Jahren war die Rede von einer Bewerbung bei einer Akademie: »Ich bin überrascht, dass du zum Fernsehen willst, aber Job ist Job. Und wenn du davon die Tiere ernähren kannst, umso besser.« Paula stutzte. Fernsehen? Bei welcher Akademie hatte Claudia Borowski sich beworben? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass jemand im Team etwas darüber zur Sprache gebracht hatte. Lea Buckow war Filmproduzentin, Felix Kleist war Schauspieler – da mussten Film und Fernsehen doch Reizworte für sie sein. Paula nahm einen Stift und unterstrich die Passage in dem Brief der Freundin. Dann ging sie die anderen Ordner von Claudia Borowski durch, die sie aus der Wohnung des Opfers mitgenommen hatten, fand aber keinen weiteren Hinweis.
Sie ließ sich von Ulla die Nummer der Freundin aus Dresden heraussuchen und rief sie an. Auf dem Anrufbeantworter erfuhr sie aber nur, dass Hella und Mitch noch bis April auf Bali seien und man leider keine Nachricht hinterlassen könne.
Julia Borowski, die sie als Nächstes anrief, meinte sich zu erinnern, dass ihre Schwester ihr vor vielen Jahren mal erzählt hatte, sie wolle sich bei einer Schule in Berlin bewerben, die junge Leute in Film- und Fernsehberufen ausbildete.
»Wissen Sie, ob sie das auch getan hat?«
»Sich beworben?«
»Ja.«
»Nein, das weiß ich nicht. Aber sie fing oft irgendetwas an, ohne es zu Ende zu machen. Ihre Pläne wechselten häufig. Letztlich wollte sie aber nur für ihre Tiere da sein.«
Paula nahm erneut den Hörer ab. »Ulla, verbinde mich doch bitte mal mit der Filmakademie am Potsdamer Platz.«
Wenig später hatte sie Frau Wenzel, die Sekretärin der Deutschen Film- und Fernsehakademie, am Apparat. Paula erklärte, wer sie war und worum es ihr ging.
Die Dame zeigte sich sofort hilfsbereit. »Ich weiß Bescheid, natürlich, die Presse ist ja voll davon: Können Sie mir sagen, wann Frau Borowski sich bei uns beworben haben könnte?«
Paula blätterte in ihren Unterlagen: »Sie hat 1998 Abitur gemacht, also wahrscheinlich kurz danach. Vielleicht noch im selben Jahr, vielleicht ein Jahr später.«
»Ich sehe das in dem anderen Computer nach und rufe Sie dann zurück. Würden Sie mir bitte Ihre Durchwahl geben?«
Während sie sich zurücklehnte und auf den Rückruf wartete, überlegte sie, was diese Information ihnen eigentlich bringen könnte. Wahrscheinlich gar nichts. Claudia Borowski hatte sich beworben, hatte den Aufnahmeanforderungen nicht genügt, war abgelehnt worden – und das war’s dann. Mal wieder eine von den vielen Aktionen, die ins Leere gingen.
Keine Vermutungen, ermahnte sie sich, schon gar keine negativen! Als das Telefon läutete, griff sie sofort zum Hörer.
»Frau Wenzel?«
»Ja. Ich habe etwas gefunden. Frau Borowski wurde nicht angenommen, weil sie ja noch sehr jung war. Im Wintersemester war sie noch hin und wieder als Gasthörerin eingetragen, kam dann aber nicht mehr. Sie hat allerdings noch bei einem Abschlussfilm der älteren Semester mitgemacht, aber danach taucht sie in den Unterlagen nicht mehr auf.«
»Wissen Sie, was für ein Abschlussfilm das war? Hatte er irgendetwas mit Tieren zu tun? Frau Borowski ist ja später Tierpflegerin geworden.«
»Das kann ich nicht sagen, hier ist nur vermerkt: Mitarbeit an ›Todesrituale‹, ein Kurzfilm von Tim Möller.«
Diese Information traf Paula wie ein elektrischer Schlag. »In welcher Funktion hat sie bei dem Film mitgewirkt?«
»Keine Ahnung, das kann ich den Notizen hier nicht entnehmen. Aber es war ein kleines Team, nur ein paar Leute:«
»Wäre es Ihnen möglich, den Film für mich herauszusuchen?«
»Das mache ich. Ich spreche gleich mit unserem Direktor, der war damals schon an der Akademie.«
Als Paula im Sony Hochhaus in dem gläsernen Aufzug in die Verwaltungsetage der Deutschen Film-
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