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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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wünschte Chris sich auch einen liebevollen und zuverlässigen Partner, war aber während der letzten Jahre nicht erfolgreich in diesem Bereich gewesen. Der Pianist, mit dem sie im vergangenen Jahr eine Affäre gehabt hatte, hielt sich monatelang für Konzerttourneen im Ausland auf. Und als er schließlich zurück in Berlin war, hatte er sich sehr um Chris bemüht, aber die großen Gefühle wollten sich bei ihr nicht mehr so recht einstellen. Umso erstaunter war Paula, als Chris ihr vor wenigen Wochen beim gemeinsamen Kaffee eröffnet hatte, sie sei schwanger.
    »Und bloß für den Fall, dass du dich das fragst: Ja, ich weiß, wer der Vater ist.«
    »Aber ich habe doch gar nicht gefragt«, wandte Paula ein.
    »Zumindest habe ich den Kreis der Verdächtigen auf drei eingeengt. «
    Paula blickte sie mit großen Augen an.
    »Das war ein Witz«, fügte Chris rasch hinzu. »Auf zwei«, sagte sie dann. Sie hatte sich jedenfalls entschieden, das Kind ohne den Erzeuger großzuziehen, und Paula freute sich für die Freundin und auf das Baby, das im September zur Welt kommen sollte.
     
    Paula parkte einige Meter Fußweg vom Institut entfernt. Sie zog sich Jacke und Schal fester um Schultern und Hals und ging zum Obduktionssaal. Bei der Autopsie von Felix Kleist waren neben Dr. Weber der Sektionsassistent Wenk, Paula und Chris Gregor anwesend. Dr. Giesecke, der zweite Mann am Tisch, kam regelmäßig erst in der letzten Sekunde, damit er seinen kleinen Auftritt hatte. Wenn schon die Weber ihn kaum beachtete, wollte er wenigstens die Aufmerksamkeit der anderen genießen.
    Wenk war heute ausnahmsweise für die Fotos von der Leiche verantwortlich, die normalerweise der Polizeifotograf schoss, aber Scholli war noch unterwegs. Wenk trug einen kleinen Ring im rechten Ohr. Er war ein zuverlässiger, etwas korpulenter Mann mit auffälligem Watschelgang. Mit einer neuen Kamera näherte er sich dem Autopsietisch, auf dem die nackte Leiche von Felix Kleist lag.
    Chris Gregor wandte sich ab, um sich etwas Menthol-Salbe unter die Nase zu reiben. Paula schnüffelte, aber bislang war so gut wie kein unangenehmer Geruch wahrnehmbar.
    Am Kopf der Leiche befand sich ein Wasserhahn, an dem ein schwarzer Gummischlauch angebracht war. Die Organwaage unterschied sich nicht sonderlich von jenen Waagen, mit denen die Händler auf dem Markt ihr Obst und Gemüse abwogen. Neben dem Tisch befand sich Martina Webers Handwerkszeug: ein Skalpell, ein ungefähr 35 cm langes Parenchyn-Messer mit speziell geschärfter Klinge, eine auf ähnliche Weise geschärfte Schere, eine Pinzette, auch Schnapper genannt, dann die Knochensäge und eine Rippenschere mit extralangen Griffen, wie man sie normalerweise in der Garage bei den Gartengeräten findet.
    Paula besaß eine ähnliche Schere noch aus der Zeit, als sie mit ihrem Ex zusammen einen Schrebergarten bewirtschaftet hatte. Immer, wenn sie Ralf beim Beschneiden der Sträucher zugesehen hatte, musste sie daran denken, wie die Schere bei der Autopsie zum Aufschneiden des Brustkorbs eingesetzt wurde.
    Wie Paula richtig vermutet hatte, traf Dr. Giesecke als Letzter ein. Umständlich erklärte er, wo und wie lange er im Stau stecken geblieben war, aber niemand im Raum schien ihm zuzuhören. Alle kannten seine Marotte zur Genüge.
    Hoch konzentriert bereitete Dr. Weber schrittweise Felix Kleist zur Autopsie vor. Behutsam entfernte sie das weißgoldene Kettchen vom Hals der Leiche und legte es in eine Metallschale. Die Mehlwürmer waren bereits am Tatort mit Pinzetten in Plastikhüllen gesteckt und zur Untersuchung in die PTU geschickt worden. Langsam schritt sie nun um den Tisch herum und begutachtete den toten Körper. Der Tod und dessen hässliche Erscheinungen hatten sie nie aus dem Gleichgewicht gebracht, und eine Leiche zu öffnen war für sie wie ein neues Buch aufzuschlagen: Aus Gewebe und Organen gab es so viel zu lernen und zu erfahren. Nach dem Tod stand ihr der Körper zur gründlichen Beurteilung zur Verfügung, und sie tat alles, um dem Toten so viel Würde wie möglich zu belassen. Sie hasste Gieseckes Witze und Anzüglichkeiten, auf die sie niemals auch nur mit einem Wort einging. In ihrem Gesicht konnte man die Verachtung lesen, wenn ihr Kollege despektierlich Körperteile von Toten kommentierte.
    Dr. Weber tippte mit dem Fuß auf die Fernbedienung des Diktiergeräts und sagte: »Vor mir liegt die nicht balsamierte Leiche eines schlanken und gut genährten erwachsenen Mannes mit einem Gewicht von ...«,

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