Unschuldig
Morgen, als Paula sich zu Sandra ins Bett legte, wie sie es als Mädchen oft getan hatte, und sich an sie kuschelte. Sofort döste sie wieder ein, und erst ein klingelndes Telefon riss sie abrupt aus dem Schlaf. Es war Sandras Handy. Sie streckte die Hand danach aus. »Hallo«, sagte sie, krampfhaft bemüht, so zu klingen, als wäre sie bereits hellwach und nicht gerade erst aus einem weiteren bösen Traum aufgeschreckt.
»Frau Zeisberg?«
Paula richtete sich auf. »Was wollen Sie?«
Eine angenehme weibliche Stimme sagte: »Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Friederike Schreiber von der Berliner Zeitung . Lassen Sie mich zunächst sagen, wie leid mir das tut mit Ihrem Sohn.«
Ein Schreck fuhr Paula durch Mark und Bein: »Was ist passiert? «
»Das sollten Sie am besten wissen. Ihre Schwester ist doch die ermittelnde Kommissarin?«
Paula wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich weiß nicht, ob Sie meine Arbeit kennen«, fuhr die Stimme fort. »Ich schreibe Reportagen.«
Paula hatte den Namen der Frau noch nie gehört.
»Und ich wollte Sie fragen, ob ich vielleicht vorbeikommen und Sie interviewen darf.«
Erst jetzt dämmerte es Paula, dass die Pressetante Sandras Telefonnummer herausgefunden hatte. Stirnrunzelnd sah sie zum Wecker. »Es ist halb sieben.«
»Ich kann auch gern später kommen. Wann immer es Ihnen passt. Ich möchte auf jeden Fall mit Ihnen sprechen.«
»Worüber?«
»Über Ihren verschwundenen Jungen natürlich. Und über Sie.«
»Wieso über mich?«
»Wir bringen selbstverständlich auch alle Tatsachen und Fakten, aber unsere Leserinnen und Leser interessieren sich vor allem für Gefühle.«
Okay, dachte Paula, sie wollen die händeringende Mutter haben mit Tränen und schwarzen Mascara-Spuren auf den Wangen. »Welche Gefühle?«
Die Stimme zögerte kurz. »Ihre Gefühle natürlich.«
»Meine Gefühle?«
»Ja, über das, was Sie durchmachen müssen. Ich kann das gut nachvollziehen. Ich bin auch Mutter. Als Mutter von dem Kleinen gehen Sie bestimmt gerade durch die Hölle. Und mich interessiert, wie Sie jetzt zu Ihrer Schwester stehen. Ihre Beziehung ist im Moment sicher nicht ganz einfach.«
»Sie haben doch keine Ahnung.« Paula legte auf.
Sandra war wach und hatte die letzten Sätze des Telefonats mit angehört. »Wer war das?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Irgend so eine Zeitungstante«, sagte Paula.
»Warum hast du sie nicht um Hilfe gebeten?«
»Die hilft uns nicht.«
»Wir brauchen die Öffentlichkeit.«
»Noch mehr Öffentlichkeit? Wozu?«
»Das ist unsere einzige Chance.«
»Sandra, ich denke, du weißt nicht …« Es klingelte wieder.
»Ich gehe schon ran.« Mit einer schnellen Bewegung hatte Sandra das Handy an sich genommen. »Hallo?« Sie erstarrte. »Was sagen Sie da?«
»Sandra, wer ist da?«
»Du kranker Idiot!« Empört unterbrach Sandra die Verbindung. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Wer war das?«, fragte Paula, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
»Du hast recht, diese Leute sind furchtbar.« Sandra schluchzte.
»Was hat er gesagt?«
»Ich habe deinen Sohn. Ich habe ihn in kleine Stücke geschnitten und frisch geschleudert auf die Wäscheleine gehängt.«
Paula überraschte die Grausamkeit ihrer Mitmenschen nicht mehr. »Am besten gehst du erst gar nicht ran«, sagte sie eindringlich zu ihrer Schwester, die noch immer das Telefon anstarrte.
»Was, wenn ihm etwas Furchtbares zugestoßen ist?«
»Ihm ist nichts Furchtbares zugestoßen.«
Sandra blickte Paula flehend an: »Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es«, sagte Paula schlicht. Und zu ihrem Erstaunen atmete Sandra erleichtert auf.
»Danke«, sagte sie.
Das Telefon klingelte erneut, aber sie blieben reglos sitzen.
»Soll ich nicht doch besser rangehen?«, fragte Sandra schließlich verunsichert.
Paula schüttelte den Kopf. Das Klingeln hörte auf. Zehn Sekunden später läutete es wieder. Und wieder und wieder. Sandra schaltete ihr Handy aus.
Paula holte frische Brötchen zum Frühstück, aber keine der Schwestern aß auch nur einen Bissen. Jonas musste wieder in die Klinik, und Sandra und Paula saßen schweigend in der Küche. Sandra hielt die Teetasse mit den roten Marienkäferchen mit beiden Händen fest umklammert.
Paula hatte die Brötchen nicht gekauft, weil sie Appetit darauf hatte, sondern mit dem wahnsinnigen Gedanken im Hinterkopf, Manuel könnte in der Bäckerei gewesen sein, und die Verkäuferin würde sie mit den
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