Unschuldig
und Mami liebt dich auch. Sie liebt dich ganz doll!«
»Ich sehe, Frau Zeisberg, Sie sind doch keine völlig herzlose Frau. Er ist ja auch ein so süßer kleiner Junge.«
»Was wollen Sie?«
»Ich möchte Ihnen ein Tauschgeschäft vorschlagen.«
»Welches Tauschgeschäft?«
»Ich behalte den Jungen, und Sie bekommen die Informationen, die Sie benötigen, um die drei Optiker-Morde aufklären zu können.«
Ehe Paula etwas erwidern konnte, hörte sie ein Klicken in der Leitung. Er hatte aufgelegt. Es gab keinen Zweifel – der Typ war komplett wahnsinnig. Er konnte doch nicht ernsthaft annehmen, dass sie ihm Manuel überlassen würde.
Paula hatte das Gespräch geistesgegenwärtig auf ihrem Handy mitgeschnitten. Jetzt aber war sie einen Moment lang zu perplex, um reden zu können. Sie ging zum Fenster und öffnete es weit. Die Frühlingssonne schien kräftig von einem kaum bewölkten Himmel. Paula schloss die Augen und spürte den warmen Wind leicht im Gesicht. Dann brachte sie Ulla ihr Handy mit der Bitte, das aufgezeichnete Telefonat abzutippen und an alle Soko-Mitarbeiter zu verteilen.
Nachdem alle das kurze Protokoll gelesen hatten, herrschte im Besprechungsraum betretenes Schweigen.
Paula war die Erste, die sprach. »Ich denke, er ist Deutscher«, sagte sie mit leicht belegter Stimme. »Das ist jedenfalls mein Eindruck. Deutsch ist seine Muttersprache. Kein Akzent. Keine Dialektfärbung. Na ja, soweit man das eben durch den Zerhacker beurteilen kann. Da müssen die Spezialisten noch mal ran. Wir haben kein Holpern, kein Zögern – alles ganz normal.«
Ulla stellte einen Teller mit einer Scheibe Brot mit aufgeschnittenen Radieschen und einen Kaffee vor Paula auf den Tisch. »Ganz normal ist der mit Sicherheit nicht.«
44
E r war glücklich, dass der Kleine so entspannt im Fernsehsessel lümmelte und sich schon zum dritten Mal seinen Lieblingsfilm Harry Potter und der Halbblutprinz ansah. Gut, dass der Kellerraum trocken und beheizbar war. Er hatte ihn bald nach seiner Rückkehr nach Berlin vor drei Jahren so hergerichtet, dass er alles hatte, was er brauchte: einen kleinen Kühlschrank für seinen Eistee, ein Bett und den gemütlichen Sessel. Er hatte auch die Unkosten für einen neuen Flachbildschirm nicht gescheut, denn am liebsten sah der Junge Filme.
In Neuseeland würde er ihm einen neuen Fernseher mit einem noch größeren Bildschirm kaufen. Obwohl, seine Tante hatte eine richtige Farm mit Tieren, vielleicht wollte der Kleine dann ja gar nicht mehr stundenlang vor dem Fernseher sitzen. Er war noch nicht in Neuseeland gewesen, aber sie hatte Fotos geschickt, und er war sich sicher, dass Manuel dort seine Stubenhockerei aufgeben und draußen herumtoben würde. Bald würden sie beide ein ganz normales Leben führen. Er würde sein altes Leben mit dem kleinen Bruder wieder aufnehmen. Sie könnten zusammen einkaufen, Ausflüge machen und müssten sich nicht mehr verstecken. Die Reise nach Neuseeland oder sonst wohin würde er sofort vorbereiten, wenn hier alles erledigt wäre. Aber einer fehlte noch.
Gott vertraute auf ihn, und er vertraute auf Gott. Oder auf den Kosmos. Oder auf irgendeine höhere Instanz. Jedenfalls glaubte er an etwas, das über das Leben hinausging. Er konnte darauf bauen, dass sein Versprechen eingelöst würde. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, dass Tim Möller genau so umkommen würde wie Fabian damals. Anschließend könnte er immer noch nach Neuseeland.
Er holte ein Magnum-Eis aus dem Kühlschrank und gab es dem Jungen. Der nahm es, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu wenden, und kühlte seine Zunge daran, bevor er schleckte.
Von seinem Bett aus beobachtete er den Kleinen, den er nun immer Fabian nannte. Er hatte sich bereits an seinen neuen Namen gewöhnt. Sie kamen prima miteinander klar, redeten, spielten und lachten zusammen.
Damals, nach dem ersten Schock, hatte er lange geglaubt, sein kleiner Bruder wäre noch da. Morgen für Morgen brachte er ihm heiße Milch mit Honig ans Bett, bis er schließlich realisierte, dass er die Milch selbst trank. Das war ein zweiter Schlag gewesen – dass Fabian wirklich fort war. Dieser Schock hatte lange angehalten. Wie in einem wilden Gewitter war er durch Traurigkeit, Angst und Wut gewandert und hatte gebetet, dass dieser Albtraum aufhören möge. Jetzt aber wusste er, wenn alle Bösen gegangen wären, würde endlich Ruhe einkehren. Er blickte den Kleinen an und fühlte, wie glücklich er war, seit Fabian wieder zu ihm
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