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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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zurückgekommen war.
    »Warum sperrst du mich ein? Was hab ich dir denn getan?«, maulte der Junge, als er das Eis aufgegessen hatte und der Film zu Ende war.
    »Gar nichts hast du mir getan. Ich will nur nicht, dass du mich wieder verlässt! Wir beide bleiben jetzt für immer zusammen!«
    Der Kleine schien das zu verstehen. »Ja, aber können wir nicht anderswo hingehen? Wo Licht ist und die Sonne scheint?«
    Er zögerte. Es roch wirklich schlecht in dem Kellerraum. Die Luft war abgestanden. »Wenn du versprichst, dass du nicht wegläufst, gehen wir nach oben, wo du aus dem Fenster in den Hof schauen kannst«, sagte er schließlich.
    »Versprochen!« Der Junge sprang freudig von seinem Fernsehsessel auf, bereit für neue Abenteuer.
    »Na gut, dann komm mit! Aber leise.« Er schob ihn vor sich her. Leise gingen sie die Treppe hinauf in die Wohnung, wobei er sehr genau auf die Bewegungen des Kindes achtete.
    »Ist das deine Küche?«, flüsterte der Kleine im Flur seiner Wohnung.
    »Ja.«
    »Und was ist das?« Er zeigte auf den riesigen Backofen, der eine ganze Ecke der Küche einnahm.
    »Das ist ein Pizzaofen.«
    »Ich mag Pizza«, erklärte Manuel. »Die von gestern war auch lecker! Hast du sie in dem Ofen gebraten?«
    »Ja, aber das heißt gebacken. Nicht gebraten.« Er lächelte. »Extra für dich gebacken.« Er spürte plötzlich eine Vertrautheit und Freude, wie er sie schon lange nicht erlebt hatte.
    »Iiiih, was ist das denn? Das ist ja eklig!«
    Er folgte Manuels Blick zur Fensterbank. Dort standen zwei große Einmachgläser mit Brotstücken, von denen kaum noch etwas übrig war. Die Mehlwürmer hatten ganze Arbeit geleistet.
    »Das sind nur Mehlwürmer«, sagte er. »Die sind ganz harmlos und sehr nützlich. Meine kleinen Haustiere.«
    »Ich möchte auch ein Haustier«, erwiderte der Junge. »Am liebsten einen Babyhund. Der ist viel lieber als deine Mehlwürmer. Den kann ich streicheln und mit ihm Ball spielen!« Vorsichtig näherte er sich den Einmachgläsern. »Ich mag die Würmer nicht«, stellte er fest. »Fressen die immer nur Brot?«
    »Nein, die sind Allesfresser.«
    »Fressen die auch Menschen?«, kam es prompt zurück.
    »Menschen fressen sie besonders gern.«
    »Lebende Menschen?«
    »Nein, nein«, beruhigte er ihn. »Nur die Toten. Komm, Fabi, wir gehen ins Wohnzimmer. Wir lassen die Mehlwürmer jetzt in Ruhe.«
    Aber der Kleine blieb fasziniert vor den Gläsern stehen. »Wofür brauchst du die?«
    »Die Würmer sind Igelfutter«, erklärte er.
    »Du hast einen Igel? Wo denn?«
    »Ich hatte einen Igel, aber der ist jetzt tot.«
    »Oh, das ist aber schade. Woran ist er denn gestorben?«
    »Er war schon sehr, sehr alt.«
    Das genügte dem Jungen offenbar als Erklärung, er wandte sich von den Mehlwürmern ab und sah sich weiter in der Küche um.
    Die Erwähnung des Igels hatte ihn jäh in die Vergangenheit zurückversetzt. Es war Spätherbst gewesen, und er war mit dem damals fünfjährigen Fabian an der Spree spazieren gegangen.
    Fast wäre sein Bruder über das winzige Lebewesen auf der Wiese gestolpert, das sich rasch in das dichte Gras duckte, als sie kamen. »Guck mal«, rief der Kleine. »Ein richtiger Igel! Wie neulich im Fernsehen! Darf ich ihn streicheln?«
    »Du wirst dich stechen«, hatte er noch gewarnt, aber der Kleine kniete schon und strich mit der Hand über den Rücken des Igelchens, das prompt die bereits aufgestellten Stacheln wieder anlegte. »Sieh mal, er mag mich!«
    Er näherte sich dem kleinen Tier vorsichtig. Tatsächlich hatte auch er noch nie zuvor einen lebendigen Igel gesehen.
    »Können wir ihn mit nach Hause nehmen? Bitte, bitte«, bettelte Fabian. Er wollte schon abwehren, als ihm der Gedanke kam, dass ein so kleiner Igel den Winterschlaf in der freien Natur sicher nicht überstehen würde. Er hatte das mit Fabi zusammen in einer Tierdokumentation gesehen. Sie schliefen ein, wachten aber nie wieder auf – es sei denn, Menschen fanden sie, die sie in ihrem beheizten Zuhause überwintern ließen. Und durchfütterten.
    Mitleid für den kleinen Igel überwältigte ihn. Fabian zog ihn noch näher hin zu dem Tier, also verstaute er den stacheligen Zwerg schließlich in seiner Tasche und nahm ihn mit nach Hause. Die Mutter war zuerst entsetzt, hatte sich aber gegen die Begeisterung ihrer beiden Söhne nicht durchsetzen können. Allerdings hatte sie den sehr schnell heimisch gewordenen Igel strikt in Fabians Kinderzimmer verbannt. Und dieses nur noch mit festem Schuhwerk

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