Unschuldig
aktuellen Fällen in einem großen Besprechungsraum im zweiten Stock. Dort trug jeder Abschnitt die neuesten Erkenntnisse vor, etwa die Ergebnisse der Ermittlungen oder Vernehmungen. So waren alle stets auf dem gleichen Wissensstand. Das bedeutete lange Arbeitstage, an denen Paula morgens zwischen sieben und acht anfing und meist nicht vor Mitternacht nach Hause kam.
Die Fotos der Toten Lea Buckow, Felix Kleist und Claudia Borowski klebten auf einer großen Tafel an der Stirnwand des Raums. Eine kleinere Tafel war allein Manuel vorbehalten. Dort hing ein Foto, auf dem er bei Paula am Küchentisch saß und lachend nach etwas griff, das vermutlich Jonas ihm gerade geben wollte. Paula versuchte, den Blick auf dieses Foto zu vermeiden. Stattdessen schaute sie zu dem Foto von Lea Buckow und einer Aufnahme des Tatorts. Daneben gab es ein Gewirr von schwarzen Linien, die die Verbindungen familiärer und geschäftlicher Kontakte markierten.
Paula holte sich einen Kaffee bei Ulla und ging in ihr Büro. Die Tür ließ sie offen. Alle warteten nervös auf einen Anruf des Entführers, aber Paula glaubte nicht daran, dass er sich melden würde. Wenn er tatsächlich Kontakt mit der Polizei oder mit Sandra hätte aufnehmen wollen, hätte er das mit Sicherheit längst getan. Wenn Manuel überhaupt noch am Leben war, mussten sie damit rechnen, dass der Mörder ihn als Druckmittel benutzen würde, um seine Forderungen durchzusetzen. Deshalb war eine Fangschaltung zu ihr nach Hause gelegt worden. Max, der Jüngste aus ihrer Neunten, war ab sofort dem Team in ihrer Wohnung zugeteilt. Er sollte sich als Jonas ausgeben, wenn der Täter anrief. Max war von Jonas für diese Aufgabe entsprechend gecoacht worden. Eine seiner Aufgaben bestand darin, den Anrufer möglichst lange hinzuhalten, damit er geortet werden konnte. Ein weiterer Beamter in Zivil stand ihm zur Seite. Der hatte die Aufgabe, Sandra zu begleiten, wenn sie das Haus verlassen wollte.
Sie rief Max nach der Besprechung am späten Vormittag an: »Hallo, Max. Alles in Ordnung zu Hause?«
»Ja, alles paletti. Deine Schwester hat gerade frischen Kaffee für uns gekocht. Der Kollege war vorhin mit ihr einkaufen. Du findest also Mettwurst, Bier und frisches Brot vor, wenn du nach Hause kommst. Leider hat sich unser Freund immer noch nicht gemeldet.«
Paula mochte Max, selbst in Stresssituationen blieb er liebenswürdig und aufmerksam. Sie wollte gerade mit der Beantwortung zahlreicher Mails beginnen, als ihr Handy klingelte. »Entschuldigen Sie, dass ich nicht direkt Manuels Mutter anrufe, aber ich vermute, Sie haben bei sich zu Hause eine Fangschaltung.«
Paula war wie elektrisiert. Das war er! Er redete durch einen Sprachzerhacker, damit man ihn nicht anhand seiner Stimme identifizieren konnte. Sie klang blechern und verzerrt. »Frau Zeisberg, sind Sie noch dran?«
»Ja, bin ich. Mit wem spreche ich denn?«
»Ich bin der böse Onkel, der heute Abend Manuel verspeisen wird.«
Paula riss sich zusammen und zwang sich, ruhig zu atmen. Er sollte auf keinen Fall merken, wie groß ihre Angst war. »Sehr lustig. Haben Sie keine anderen Scherze drauf?«
»Er liegt hier direkt auf dem Hackbrett vor mir, Paula.«
»Gut, dann lassen Sie mich mit ihm sprechen.«
»Er kann nicht sprechen.«
»Warum nicht?«
»Weil sein Mund mit Klebeband zugeklebt ist. Sie hätten besser auf Ihren Neffen aufpassen sollen. Aber er kann Sie hören, Paula. Ich halte ihm jetzt das Telefon ans Ohr. Sie können ihm sagen, dass Sie ihn lieben. Er versteht Sie. Einen Moment noch.«
Aus den Geräuschen und der Zeitspanne schlussfolgerte Paula, dass der Anrufer in ein anderes Zimmer ging. Sie presste den Hörer ans Ohr. »Hallo! Hören Sie mich noch?«
»Einen Augenblick noch. Jetzt können Sie sprechen. Jetzt hört er Sie. Also los, sagen Sie etwas zu ihm!«
»Manuel? Manuel, hörst du mich?«
»Tante Paula, wo bist du?« Die Stimme klang ebenso blechern und verzerrt, dass sie irgendjemand gehören konnte. Vielleicht sogar wieder dem Entführer selbst.
»Manuel?« Sie hoffte, ihn vielleicht am Inhalt der Nachricht zu identifizieren. »Manuel, welches Plüschtier habe ich dir zuletzt geschenkt?«
Einen Moment lang war nichts zu hören, dann antwortete die Stimme: »Die Giraffe. Du musst Mami sagen, dass sie nicht traurig sein soll.«
Nun war sie sich sicher, dass der Anrufer Manuel hatte, denn die Giraffe hätte er sich nicht ausdenken können.
»Manuel, ich liebe dich. Hörst du mich? Ich liebe dich,
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