Unschuldig
betreten.
Der Igel biss bei der Begegnung mit fremden Wesen zuerst einmal zu. Nicht sehr schmerzhaft, aber Fabian und er waren auf der Hut. »Bisschen«, wie Fabian das Igel-Baby passend taufte, wurde ihr innig geliebtes, schnell wachsendes Maskottchen.
Bald war das Tier doppelt so groß und derart zutraulich, dass man es jederzeit hochnehmen und streicheln konnte. Nur bei Fremden rollte es sich nach bekannter Igel-Art zur Kugel.
Damals hatte er begonnen, Mehlwürmer zu züchten – Bisschens absolute Lieblingsmahlzeit. Und Fabian hatte fasziniert deren Vermehrung beobachtet und immer dafür gesorgt, dass ein frisches Stück Brot für ihre Nahrung bereitlag.
Nachdenklich folgte er nun dem Kleinen, der in den Flur vorausgelaufen war. Wie sollte es jetzt weitergehen? Konnte er mit dem Jungen unbedenklich in der Wohnung bleiben?
Im Wohnzimmer war von Manuel nichts zu sehen. Augenblicklich wurde er von Panik erfasst. »Fabian, wo bist du?«, rief er, bekam aber keine Antwort. Unmut stieg in ihm auf, der sich zum Zorn steigerte, als er ihn bei einem schnellen Rundgang durch die Wohnung nirgends erblicken konnte. Atemlos riss er die Eingangstür seiner Wohnung auf und spähte hinaus: Nichts.
Er rannte so schnell er konnte die Treppe hinunter – und sah den Knirps tatsächlich, wie er versuchte, die schwere Haustür zu öffnen. Glücklicherweise wurde die Tür aber abends abgeschlossen und ließ sich nur mit einem Schlüssel öffnen. Mit wenigen Schritten war er bei ihm.
Als der Kleine sein wütend verzerrtes Gesicht sah, fing er an zu weinen.
»Halt den Mund, sonst fressen dich die Würmer!« Er riss ihn grob hoch und trug ihn wieder in den Keller hinunter.
»Mach das nie wieder, hörst du?«, keuchte er.
»Aber ich wollte ja gar nicht weglaufen!«, schluchzte der Junge. »Ich wollte nur die Straße sehen, wo du wohnst!«
»Du darfst mich nicht verlassen, hörst du!«, rief er. »Endlich habe ich dich gefunden! Du musst bei mir bleiben! Verlass mich nie, nie wieder!« Ohne einen Blick zurück verriegelte er den Kellerraum und stampfte die Treppen in seine Wohnung hinauf.
Im Wohnzimmer setzte er sich aufs Sofa und beobachtete, wie das Zittern seiner Hände langsam nachließ. Er fühlte sich einsam. Das kannte er gut, denn auch in der Zeit, bevor Fabian zur Welt kam, war er oft allein gewesen. Seine Mutter hatte selten Zeit für ihn. Sie war mit verschiedenen Putzstellen, dem Haushalt und einem kleinen Schrebergarten in Lichtenrade voll beschäftigt. In dem Jahr, als Fabian geboren wurde, zog der Vater aus. Kein großer Verlust. Beinahe jeden zweiten Abend war er sturzbetrunken gewesen, pöbelte seine Mutter und ihn an und schlug auch häufig zu. Als er endlich körperlich in der Lage gewesen wäre, sich zu wehren, war der Vater leider schon fort.
Wer geschlagen wird, schlägt. Das stimmte aber nicht immer, jedenfalls traf es auf ihn nicht zu. Je mehr er geschlagen wurde, desto mehr zog er sich in sich zurück und kümmerte sich liebevoll um die Mutter und später um seinen kleinen Bruder. Schon als Fabian noch ein Baby war, sprach er mit ihm. Er las ihm aus seinen Büchern vor und erzählte ihm Geschichten. Weil die Mutter immer viel zu tun hatte, hielt Fabian sich von Anfang an eng an seinen großen Bruder. Als er laufen konnte, folgte er ihm überall hin. Ein kleiner Schatten, der sich bemühte zu gefallen. Er brachte Fabian das Schwimmen bei und auch Lesen und Schreiben. Er war für ihn Freund und Bruder, Mutter und Vater zugleich.
Nach Fabians Tod sprach er lange kein Wort mehr. Mit niemandem. Weder mit Freunden noch mit seiner Mutter. Teilnahmslos saß er herum, kratzte sich die Kopfhaut blutig und kaute an den Fingernägeln. Tag und Nacht versuchte er, den Tod des Kleinen zu begreifen. Es wollte einfach nicht akzeptieren, dass sein geliebter Bruder für immer von der Erde verschwunden war.
Nach einigen Monaten kapitulierte die Mutter. Sie kam gegen sein Schweigen nicht an. Er würdigte sie keines Blickes, antwortete nicht auf ihre Fragen. Wenn sie ihn berührte, schüttelte er ihre Hand ab, als habe sie eine ansteckende Krankheit.
Sie ging mit ihm zum Pfarrer und bat ihn, mit ihrem Sohn zu sprechen. Der Pfarrer stellte keine Fragen und erwartete keine Antworten. Er sah ihn nicht einmal an, während er ihm referierte, was er über den Tod wusste. Nämlich das, was er in Büchern gelesen und schon unzählige Male in einer seiner Beerdigungsreden verkündet hatte.
Einmal brach er sein Schweigen und
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