Unschuldig!
Sie darum zu bitten. Sie können mir glauben, Mrs. Bradshaw, dass ich das nicht machen würde, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass ein Besuch von Ihnen meinem Onkel irgendwie helfen könnte. Vielleicht würde Ihr Besuch ihn auch einfach nur beruhigen.” Hastig fügte sie hinzu: “Pine Hill liegt in Carmel Valley, eine halbe Autostunde von Monterey entfernt.”
“Ich schätze, dass ich ein paar Minuten Zeit finden könnte”, sagte Julia. “Aber nicht heute. Heute werde ich hier bei meinem Sohn gebraucht. Wäre morgen für Sie in Ordnung?”
“Das wäre wunderbar. Ich danke Ihnen, Mrs. Bradshaw.”
Julia nahm sich vom Tisch einen Zettel und einen Stift. “Gut, dann geben Sie mir die Adresse.”
6. KAPITEL
D as Pine-Hill-Pflegeheim lag in den Anhöhen oberhalb von Carmel Valley ein Stück nördlich des San Jose Creek. Von dem zerklüfteten Felsen, auf dem das Gebäude errichtet worden war, hatte man einen atemberaubenden Ausblick auf den Monastery Beach. Nach der Anzahl der Patienten zu urteilen, die sich allein oder mit einem Verwandten an der frischen Luft aufhielten, war die Lage des Heims einer seiner größten Vorzüge.
Jennifer Seavers wartete an der Schwesternstation, als Julia eintraf. Sie war eine hübsche, junge Frau mit hellbraunem Haar, das als Bob geschnitten war, und braunen Augen. Mit schnellen Schritten eilte sie auf Julia zu.
“Wie geht es Ihrem Onkel?” fragte Julia, als sie sich die Hand gaben.
“Er ist noch immer aufgeregt, wenn auch nicht so schlimm wie gestern.”
Gemeinsam gingen sie den grün ausgelegten Flur entlang, bei jedem Schritt klapperten Julias Absätze.
Jennifer führte Julia in einen spärlich eingerichteten Raum mit grünen Wänden, einer kleinen Anrichte und einem Bett. Einige persönliche Gegenstände und vergilbte Fotos standen auf der Anrichte und waren der einzige Hinweis darauf, dass der Patient in Zimmer 106 einmal ein ganz normaler, voll funktionstüchtiger Mensch gewesen war.
Ein Mann, der mit dem Rücken zu Julia in einem Schaukelstuhl saß, sah aus dem Fenster. Als sie näher kam, war sie beim Anblick seines Gesichts entsetzt, wie zerbrechlich er aussah. Tiefe Linien zogen sich um seinen Mund, und nur ein paar graue Haarbüschel waren auf seinem Kopf verblieben. Er trug eine hellbraune Hose, ein sauberes weißes Hemd, dessen oberster Knopf offenstand, und eine beigefarbene Strickjacke, die zwei Nummern zu groß war.
Er nahm weder Julia noch Jennifer wahr, sondern schien vollkommen von dem erhabenen Ausblick vor seinem Fenster gefesselt zu sein.
“Onkel Eli?” Jennifer hockte sich neben der stillen Gestalt nieder und umschloss seine schlaffe Hand. “Julia Bradshaw ist hier.”
Der Mann drehte den Kopf zur Seite, sein matter Blick erfasste Julia.
Sie lächelte ihn an. “Wie geht es Ihnen, Eli?”
Die spröden, blassen Lippen des Mannes begannen sich zu bewegen, und in seinen Augen, die eben noch ausdruckslos gewesen waren, zeichnete sich Angst ab.
“Onkel Eli, hab bitte keine Angst.” Jennifer tätschelte beruhigend seine zitternde Hand. “Niemand tut dir etwas.”
Julia machte einen Schritt nach hinten. “Meint er, dass ich ihm wehtun werde?”
“Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Er fürchtet sich vor allem. Paranoia ist eines der vielen Symptome dieser Krankheit. So wie der Gedächtnisverlust.”
Von einem Tablett nahm Jennifer einen Pappbecher, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt war, und führte ihn an seinen Mund. Eli nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen, bedankte sich aber nicht bei ihr.
“Ich kann einfach nicht glauben, wie schnell sich sein Zustand verschlechtert hat”, fuhr Jennifer fort. “Seit er hier ist, starrt er nur auf den Fernseher oder aus dem Fenster und sagt kein Wort.”
“Wie alt ist er?”
“Gestern ist er vierundsechzig geworden”, antwortete sie, dann sprach sie weiter, als sie Julias erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte. “Ich weiß, er sieht viel älter aus.”
“Hat er hier in Carmel gelebt?”
“In Salinas. Und ich wohne in Ventura. Darum ist es auch sehr schwierig für mich, so oft herzukommen, wie ich es gerne würde. Ich arbeite als Kellnerin, um das College zu finanzieren”, erklärte sie offen.
Julia dachte einen Moment lang nach. “Ich versuche, mich daran zu erinnern, ob mein Exmann irgendwann einmal davon gesprochen hat, dass er jemanden in Salinas kennt, aber ich habe keine Ahnung. Was hat Ihr Onkel gemacht?”
“Vor langer Zeit hat er Wirtschaft an der UCLA unterrichtet.
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