Unser Mann in London
60 Gramm Reis zu verwenden. Der Maki-Koch benutzte keine Waage. Er hatte den Unterschied zwischen 55 und 60 Gramm Reis im Gefühl. Alles schien eine unglaubliche Präzisionsarbeit: Die Hände mussten feucht, aber auf keinen Fall triefend nass sein, um den Reis auf die Algenblätter zu streichen. Der Reis musste gleichmäßig verteilt werden, damit die Algenblätter nicht rissen. Von der Füllung durfte auf keinen Fall zu wenig, aber bloß auch nicht zu viel Thunfisch oder Gurke verwendet werden. Und das alles musste unter enormem Zeitdruck geschehen.
Permanent kamen neue Bestellungen herein. Dies war kein Ort für englische Höflichkeit. Colin sagte nicht: «Würde sich jemand finden, der so nett sein könnte, dieses exquisite Tempura-Gericht bitte zum Tisch Nummer 7 zu bringen?» Colin sagte: «Tisch Nummer 7 – jetzt!»
Möglicherweise ist der schlechte Ruf der englischen Küchen auf die landestypische Höflichkeit zurückzuführen. Vielleicht sagten früher die Köche in den Pubs zu ihren Küchengehilfen: «Wenn es niemandem etwas ausmacht, könnte jetzt jemand unter Umständen das Gemüse aus dem Kochtopf nehmen.» Und so erreichte das englische Gemüse seinen international berühmten Zustand: Es war total verkocht, bis jemand die Güte hatte, es aus dem Topf zu nehmen.
Ich verbrachte vier Abende als Praktikant bei Zuma. Meine Salate wurden sogar serviert. Meine Maki-Röllchen allerdings blieben, nicht zu meinem Nachteil, unpräsentierbar. Mal zerfiel der Reis, mal hatte ich zu viel Thunfisch-Füllung verwendet. So durfte ich sie selbst aufessen.
Die Köche schienen keinen Hunger beim Kochen zu bekommen. Von mir konnte ich das nicht sagen.
Ich lernte viel im Zuma, etwa Fisch auszunehmen oder warum mein Steak zu Hause immer so trocken schmeckte. Ich hatte es direkt aus dem Kühlschrank in die Pfanne gelegt, aus der Kälte in die extreme Hitze, bei diesem Temperaturschock zog sich das Fleisch zusammen. Auch hatte ich oft während des Bratens mit der Gabel hineingestochen, um zu sehen, ob es schon gar war. Durch die Einstiche verlor das Steak Saft. Nach meinem Praktikum machte ich zu Hause einiges besser. Nur Tempura-Gerichte im heißen Öl kochte ich nie.
Nach etlichen ordentlichen Spielen für Fulham wurde ich abgeklärter oder vielleicht auch einfach nur träge. Jedenfalls reichte es mir zur Entspannung samstagvormittags immer öfter, ein Omelette mit Käse und Kräutern zu braten, statt drei Kuchen zu backen. Einige Mitspieler erwarteten allerdings weiter den üblichen Kuchen. Ich kaufte ihn im Delikatessenladen auf der King’s Road und gab ihn als meinen aus.
Hauptsächlich kochte ich vor den Spielen nur noch mit den Augen. Ich sah mir freitagabends über Satellit die Sendung
Kerner kocht
im deutschen Fernsehen an. Fortan hatte ich zwei Träume: einmal in der Nationalelf spielen. Und einmal in so einer Talk-Kochshow kochen. Ich fühlte, das war wohl das Höchste, was ich mit meiner Kochkunst erreichen konnte. Denn um in einem Restaurant zu kochen, war ich schlichtweg zu langsam. Auch schaffte ich es aus unerfindlichen Gründen nie, alle Zutaten eines Gerichts zum selben Zeitpunkt fertig zuzubereiten.
Die Kochshow, wie überhaupt die Idee, dass Köche Stars sein können, hat sich Deutschland, ohne es zu merken, aus London abgeschaut. London hat einen unersättlichen Bedarf an Stars, um sich die eigene Größe zu beweisen. So erlangte in dieser Stadt auch die reife, rothaarige Moderatorin einer Gartensendung Popstarstatus, offenbar, weil sie beim Gärtnern keinen Büstenhalter unter dem T-Shirt trug. Charlie Dimmock tritt heute sogar im Frühstückfernsehen auf, um den Leuten zu ihrem Morgentee Gartentipps zu präsentieren.
Die Köche sind schon länger auf allen Kanälen. Millionen Engländer schauen Jamie Oliver, Nigella Lawson oder Gordon Ramsey fasziniert beim Kochen im Fernsehen zu, Hunderttausende kaufen ihre Kochbücher oder lesen ihre Kochkolumnen in den Zeitungen. Nur selber kochen all diese britischen Kochfans nicht mehr.
Ein Land hört auf zu kochen. Den Eindruck habe nicht nur ich, sondern auch profundere Kenner auf diesem Feld wie Jamie Oliver. Die Engländer trauten sich nicht mehr zu kochen, sagte er.
Durch das Mikrowellenessen, Fast-Food-Lokale wie auch durch die neue, bessere Küche der Gastro-Pubs ist fertig zubereitetes Essen in den jüngsten 20 Jahren für fast jeden in England täglich erschwinglich geworden. Es gibt alles
to go
, selbst Cornflakes, mit der
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