Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unser Spiel

Unser Spiel

Titel: Unser Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
Vom Netzwerk:
kleiner, die Wände kamen auf mich zu. Meine Augen sahen mehr. Schon konnte ich das Kabel der Schreibmaschine bis zur Wand verfolgen. Und allmählich unterschied ich die Anzeichen eines hastigen Aufbruchs: herausgezogene und halb geleerte Schreibtischschubladen, verstreute Dokumente auf dem Boden, angekokelte Zettel im Kamin, den umgekippten Papierkorb. Und noch mehr Larry-typisches: an der Wand aufgestapelte Berge von Extremisten-Zeitschriften mit eingelegten Lesezeichen; ein altes Poster, auf dem ein überaus gütiger Josef Stalin in einem Garten Rosen beschneidet. Larry hatte ihm eine Krone auf den Kopf gemalt und ihm die Worte »Wir haben nie geschlossen« auf die Brust geschrieben. Überm Kamin eine Radierung von Notre Dame, beklebt mit vollgekritzelten Stickerzetteln. Mit einer behandschuhten Hand zog ich ein paar davon ab und trat damit in den Erker: Entziffern konnte ich sie hier zwar nicht, sah aber immerhin, daß einer von Emma und der andere von Larry geschrieben war. Ich zog auch die anderen der Reihe nach ab und klebte sie sorgfältig übereinander, bevor ich sie in meiner Tasche verschwinden ließ.
    Dann ging ich zu dem Haufen Briefe an der Vordertür und nahm mir eine Handvoll davon. Miss Sally Anderson, las ich gebückt, Freiheit für Prometheus GmbH, 9A Cambridge Street. Poststempel nicht Macclesfield, sondern Zürich. Terry Altmann, Esq., las ich, Freiheit für Prometheus GmbH – Terry Altmann, einer von Larrys früheren Decknamen, und Prometheus, wegen seiner Machenschaften an einen Berg im Kaukasus geschmiedet, bis Larry und Emma ihn befreit hatten. Flugblätter, grellbunte Broschüren, russische Qualität. Drucksachen aus Caversham vom Abhördienst der BBC für Südrußland (West). An den Geschäftsführer, Freiheit für Prometheus GmbH. An Sally, Freiheit für Prometheus GmbH. Kontoauszüge. Eine Mappe mit handschriftlichen Briefen an Emma; sie stammten von Larry, der für seine Briefe alles benutzte, was ihm in die Hände fiel: Bierdeckel, Papierservietten, die Titelseite eines radikalen Taschenbuchs aus einem windigen Anarchistenverlag in Islington. Adressiert an Darling, Geliebte Emm, und dann weiter: Himmel, ich habe vergessen, Dir zu sagen. Ein Rundschreiben, Überschrift »Medien manipuliert«, Untertitel »Wie die westliche Presse Moskau in die Hände spielt«. Nur die Ruhe, redete ich mir zu, als ich das alles auf den Haufen zurückwarf. Systematisch vorgehen, Cranmer. Du bist Agent, ein alter Hase nach unzähligen Einbrüchen für die Firma, bei denen auch Larry dir manche Dienste geleistet hat. Also ruhig jetzt. Eins nach dem anderen. Ein rotweißes Heft in Russisch, Titel Genozid im Kaukasus in grellen Großbuchstaben, Typ Sowjet-Agitprop, Jahrgang 1950, nur daß es vom Februar 1993 stammte und sich auf den »Holocaust vom letzten Oktober« bezog. Ich schlug es irgendwo auf und sah zerstochene aufgedunsene Kinderleichen. Kaukasus Rundschau II , München 56, vgl. Seite 134-156. Kaukasus Rundschau V (München 56), vgl. Seite 41-46. Angestrichene Passagen. Wütende Randnotizen, nicht lesbar bei dem kränklichen Licht.
    Es gab eine Innentür, und die Geographie verlangte, daß sie in den Teil des Hauses führte, der zu der Nebenstraße hin lag. Ich drückte auf die Klinke. Nichts. Ich drückte mit aller Gewalt, die Tür gab nach und quietschte übers Linoleum. Es roch nach ranziger Butter, Staub und Lifebuoy-Seife. Ich war in der Küche. Durch ein Fenster über dem Spülbecken fiel mehr Licht von der Straße auf die Fliesen. Auf einem Ständer trockneten Teller. Und zwar schon so lange, daß sie wieder schmutzig waren. Auf den Regalen eine Auswahl von Larrys undemokratischen Extravaganzen: Pfeffersardinen aus einem Luxusladen in der Jermyn Street, Oxford Marmelade und Fortnum’s Englischer Frühstückstee. Im Kühlschrank ranziger Joghurt, saure Milch. Daneben eine Holztür, oben und unten mit Riegeln und zusätzlich noch mit einer Sperrkette versehen. Der Seiteneingang, den ich vom Bürgersteig aus inspiziert hatte. Ich ging ins Wohnzimmer zurück und sah auf die Uhr. Bis jetzt hatte die Ewigkeit drei Minuten gedauert.
    Auf der Treppe war es stockdunkel, wacklige Stufen ohne Teppich. Ich zählte vierzehn, erreichte einen Absatz, ertastete eine Tür, dann eine Klinke. Ich drückte sie auf und trat hinein. Das Badezimmer. Ich ging wieder raus, schloß die Tür, lehnte mich mit dem Rücken daran und tastete nach links und rechts, bis ich eine weitere Tür fand; ich machte sie auf und trat

Weitere Kostenlose Bücher