Unsterbliche Küsse
schönen Blick auf die Ostklippe und die Abtei hatte. Dixie nahm das Zimmer, weil das Bett so bequem aussah; den Ausblick würde sie später genießen.
Nachdem sie sich kurz frisch gemacht und eine Tasse Instantkaffee getrunken hatte, sah sich Dixie schon sehnsüchtige Blicke auf die rosa Rosen auf dem Plumeau und den Kissen werfen. Aber es war kaum acht, und außer einem Sandwich im Zug hatte sie noch nichts gegessen. Sie hatte Hunger und könnte bei der Gelegenheit gleich die Stadt erkunden. Was sollte sie auch sonst machen? Fernsehen und die Preisschilder von ihren neuen Klamotten abknipsen?
»Sie gehen aus?«, fragte Mrs Thirlwood, als sie in die großzügige, dunkel getäfelte Diele herunterkam.
»Wenn ich bei dem Nebel noch irgendetwas sehe, ja. Die Waschküche vorhin war schon schlimm genug.«
»Das war doch kein Nebel, nur leichter Küstendunst.«
»Dunst nennen Sie das?« Wenn das keine dicke Nebelsuppe war, hatte sie keine zehn Zehen.
»Küstendunst. Gar nicht selten zu dieser Jahreszeit, aber eigentlich haben wir ihn das ganze Jahr über. Entsteht über der See, kommt schnell hereingeweht und ist noch schneller wieder verzogen. Man gewöhnt sich daran. Nur auf den Klippen muss man vorsichtig sein, aber sonst … da, sehen Sie, machen Sie die Tür auf, er verzieht sich schon wieder.« Die Straßenlampen auf halber Strecke bis zur nächsten Kurve und die Dächer der Häuser gegenüber konnte Dixie gut erkennen.
Sie schaute skeptisch in den sich lichtenden Dunst. Wenn das Juni war, wie würde es dann erst im November sein? Sie fuhr los, dieses Mal bergab, und folgte den jetzt sichtbaren Wegweisern zum Hafen hinunter. Das blauschwarze Wasser, in dem an die zwanzig Boote schaukelten, war vom Vollmond beschienen. Von dort fuhr sie wieder bergauf, weil sie in dieser Richtung das Zentrum vermutete. Sie fuhr langsam, suchte nach einem Parkplatz und eventuell einem Restaurant.
Ungefähr auf halber Strecke fiel von links das Licht einer erleuchteten Ladenfront über die Straße. Frittiergeruch waberte ihr einladend entgegen, und über der offenen Eingangstür prangte in grellem Neon der Schriftzug » Fish and Chips «. Dixie parkte im absoluten Halteverbot, insgeheim hoffend, britische Politessen hätten Besseres zu tun, als hungrige Touristinnen zu verfolgen.
»Kabeljau, Seelachs oder Rochen?«, fragte der Glatzköpfige hinter der Theke.
»Kabeljau«, erwiderte Dixie. Davon hatte sie zumindest schon gehört . Sie nahm eine Plastikmarke mit Nummer entgegen und stellte sich zu einem Haufen Wartender. Dort bot ihr ein grauhaariger Mann einen Stuhl an. Dixie zögerte – er war dreimal so alt wie sie und gebrechlich –, aber abzulehnen wäre auch unhöflich gewesen. »Danke, sehr nett«, sagte sie lächelnd und sah sich sofort mit den unvermeidlichen Fragen konfrontiert: Ja, sie war Amerikanerin. Nein, sie lebte nicht in der Nähe von Disney World. Ja, sie hatte sich auf besseres Wetter eingestellt.
Sie versuchte, seinen Worten zu folgen, aber der starke Yorkshire-Dialekt war nach der langen Fahrt und der schlaflosen Nacht davor eine große Herausforderung. Sie lächelte, nickte und studierte ihre Umgebung. Den Kunden im Laden und den Reihenhäusern draußen nach zu urteilen, war sie in ein ärmeres und älteres Viertel geraten. Könnte Christopher sich hier verkrochen haben? Mit dem Komfort von Dial Cottage oder Toms elegantem Haus konnte sich die Gegend nicht messen, aber wenn er nur hier war, um Ruhe zu halten …
»… ein Vampir soll es gewesen sein.«
Dixie bekam die Worte genau mit, die von einem jungen Mann mit Lederjacke kamen. »Was?«, fragte sie. »Was haben Sie von einem Vampir gesagt?«
»Da hast du’s!«, sagte eine dicke Frau in lilafarbenem Regenmantel. »Du erschreckst die Touristen mit deinem Gerede.«
»Es stimmt«, entgegnete der junge Mann. »Stand doch in der Zeitung.«
»Man kann nicht alles glauben, was die Zeitungen schreiben«, sagte ein kleines Männchen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Dixie und versuchte den Anschein purer Neugier zu erwecken. »Hat wer einen Vampir gesehen? Ich kenn ja die Geschichten über Graf Dracula und Whitby und all das, aber sicher …«
»Die hatten ein Gläschen zu viel. Weiter war da nichts, wenn Sie mich fragen«, sagte die Dicke.
»Aha«, sagte Dixie und sah zu dem jungen Mann hinüber. Sie lächelte ihm zu und hoffte, er würde sie nicht missverstehen, aber keiner der Anwesenden wirkte so gesprächsbereit wie er.
Sie hatte sich nicht
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