Unsterbliche Leidenschaft
vorher gewesen war, und auch die Spannung in ihrer Haut löste sich. Innerhalb von Sekunden war das Monster verschwunden, und ihr sah wieder die vertraute alte Angela entgegen, soweit man seit ihrer Ghulisierung überhaupt von »vertraut« sprechen konnte.
Nachdem sie ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, setzte sie ihren Weg bergab fort. So! Sie konnte also übel gesinnte Bösewichte abschrecken. An die Fähigkeit, die Gestalt zu verändern oder zur Bewusstseinsmanipulation, wozu ältere Vampire in der Lage waren, oder gar an die Körperkräfte, über die Stella verfügte, reichte das zwar nicht heran, aber es war immerhin ein Anfang. Wozu war sie sonst noch fähig? Fliegen? Über das Wasser gehen? Schneller laufen als Rehwild? Die ersten beiden Punkte würde sie zunächst hintanstellen, aber was den letzteren betraf, da könnte man doch ein Experiment wagen. Wenn sie demnächst wieder in die Moore hochfahren würde, könnte sie einen Versuch starten. Mal sehen, wie ausdauernd und schnell sie laufen konnte.
Es wäre schön, eine Liste aller Ghul-typischen Eigenschaften zu haben. Leider war Tom in den alten Handbüchern nicht fündig geworden, aber was soll’s, sie würde einfach selbst eine zusammenstellen. Hatte Jane irgendwelche Entdeckungen gemacht? Sie würde sie anrufen, sobald sie die Karten gelegt und bei Stella nachgefragt hatte, ob droben in Yorkshire alles in Ordnung war.
Am unteren Ende des Hügels angekommen, fühlte Angela sich schwach und schwindelig. Die Igor-Nummer zehrte scheinbar an den Kräften. Sie gierte nach rohem Fleisch, zum Glück hatte sie ja genug in ihrem Zimmer. In ihrer Ungeduld, endlich etwas zwischen die Zähne zu bekommen, hätte sie beinahe den Schlüssel fallen gelassen, erreichte aber glücklich ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu und griff nach dem erstbesten Paket, in dem sich zufällig das Hühnchen befand.
Gierig schlang sie das rohe Fleisch in sich hinein, bis nur mehr die Knochen übrig blieben. Nachdem der erste Hunger gestillt war, fiel ihr Blick auf das Papiertütchen wenige Zentimeter von ihren Fingern entfernt. Aber Wahrsagekarten konnte sie schlecht mit fettigen Fingern anfassen. Also wusch sie sich gründlich die Hände, neugierig und gespannt darauf, ob sie überhaupt etwas, und wenn ja, was sie erfahren würde.
Die neuen Karten glitten leicht aus dem Schächtelchen, und ihre Fingerspitzen strichen über die unberührten Oberflächen. Sie mischte sie sorgfältig, ließ die Karten durch ihre Finger streichen, während sie sich darauf konzentrierte, ihre Botschaften aufzuspüren. Das machte sie rein intuitiv, indem sie verlorene Erinnerungen nutzte. Dann hob sie spontan ab und breitete sieben Karten mit der Vorderseite nach unten kreisförmig auf der Bettdecke aus.
Der Anblick kam ihr ungemein bekannt und zugleich völlig fremd vor. Unfassbar! Aber sie wusste genau, was sie tat oder tun würde, wenn sie die Karten aufdeckte. Ihre Finger zitterten leicht, als sie die Piksechs aufdeckte. Gefahr! Damit war sie gerade erst konfrontiert worden. Im Übermaß. Sie konnte sich eines Lachens nicht erwehren. Musste mit einer verspäteten Schockreaktion und der darauf folgenden Erleichterung zu tun haben, denn normalerweise ziemte es sich nicht, über Karten zu lachen. Sie galten geradezu als heilig. Als Nächstes deckte sie den Herzkönig auf: ein netter blonder Mann. Tom war eher braunhaarig als blond, aber vom Hauttyp her eindeutig sehr hell. Aber zählte denn ein Vampir als Mann? Pikbube: ein Mann mit schlechten Manieren. Nein, die Karte war umgekehrt. Ein falscher Freund, ein Verräter. Ha! Bei der nächsten Karte stieß sie eindeutig auf Tom: Kreuzbube, ein guter Liebhaber und kluger, dunkler junger Mann. Okay, »jung« hatte sie nicht ohne Grund gesagt, aber als er starb, war er tatsächlich jung gewesen. Als Nächstes die Herzacht: Liebe und Romantik. Danach sehnte sie sich. Vielleicht wenn sie herausgefunden hatte, wer sie war. Noch einmal Kreuz. Die Kreuzsechs umgekehrt. Also war Vorsicht angesagt. Wovor?
Bei der letzten Karte zögerte sie: die Herzacht. Sie konnte sich auf Liebe einstellen. Zu fragen, woher sie das alles wusste, war sinnlos, dafür gewann sie an Selbstvertrauen. Sie war in der Lage gewesen, aus den Karten zu lesen, und würde es auch wieder können.
Wenn Tom hier wäre, würde sie ihn jetzt auffordern zu mischen. Da er aber nun einmal nicht hier war, mischte sie für ihn und stellte sich dabei sein sexy Lächeln vor und seinen
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