Unsterbliches Verlangen
doch unmöglich wissen konnte.
»Na gut, ich will sofort wissen, worüber du nachdenkst.«
Prudence blickte auf, direkt in das fragende Gesicht ihrer Schwester Caroline. Georglana und Matilda beobachteten sie ebenfalls. Die vier saßen allein um den Tisch, da sie beschlossen hatten, ihr Frühstück heute Morgen in dem kleinen Salon einzunehmen. Alle anderen waren bereits fertig und gegangen, so dass die Schwestern Zeit für sich hatten, was Pru gewöhnlich sehr genoss.
»Denkst du an Marcus Grey?«, neckte Georgiana sie.
Matilda lächelte. »Oder an den rätselhaften Mr. Chapel?«
Caroline verdrehte die Augen. »Jetzt müsste ich nach Pater Molyneux fragen! Warum muss es denn ein Mann sein, der sie schweigsam macht?«
»Weil«, murmelte Matilda, »nichts anderes sie zum Verstummen brächte.«
Der Blick, den Caroline ihrer Schwester daraufhin zuwarf, hätte günstigstenfalls als streng ausgelegt werden können. Gleich darauf wandte sie sich wieder Prudence zu. »Geht es dir heute Morgen nicht gut, Liebste?«
Caroline sah sie dazu auf eine Weise an, dass Matilda sogleich zerknirscht war. Pru seufzte.
»Mir geht es gut, Matilda, und fühl dich ja nicht schuldig! Wenn ihr drei es unbedingt wissen wollt: ja, ich denke an Mr. Chapel. Zufrieden?«
Georgiana war es offensichtlich nicht. »Nicht an Mr. Grey? Du bist blöd, meine Liebe, richtig blöd.«
Matilda bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Mr. Chapel ist außergewöhnlich gutaussehend. Und er hat etwas sehr Faszinierendes.«
»Genau das, was man sich an einem Mann wünscht.«
Georgianas Ton troff vor Sarkasmus. »Außerdem ist er blond.« Aus ihrem Munde klang das wie ein Fluch.
»Ho-ho, nun werden die ganz großen Geschütze aufgefahren!«, erwiderte Matilda trocken.
»Gestern Abend hätte er mich fast geküsst«, platzte Pru heraus.
Das ließ ihre zankenden Schwestern verstummen. Eine nach der anderen wandten sie sich mit großen Augen zu die drei, die sie bis heute gern als »das Baby« bezeichneten.
»Er hat was?«
»Warst du mit ihm allein?«
»Und du hast ihn nicht gelassen?«
Die Fragen prasselten so schnell auf sie ein, dass Pru nicht sicher war, welche von wem kam. Allerdings dürfte Matilda diejenige gewesen sein, die entsetzt war, dass Pru sich nicht von ihm küssen hatte lassen.
Auch sie selbst zweifelte an ihrem Verstand, je mehr sie darüber nachdachte. Sich vorzustellen, dass sie diese wundervollen Lippen auf ihren hätte spüren können ...
»Wir waren gestern Abend in der Bibliothek, haben Tee getrunken, und ich las ihm aus den Blättern.« Sie erwähnte nicht, dass sie sich selbst in seiner Tasse gesehen hatte. Damit hätte sie ihre Schwestern bloß zu Spekulationen veranlasst und sich vergebens Hoffnungen gemacht.
»Er wollte dich küssen, weil du ihm aus den Teeblättern gelesen hast?« Georglana sah kichernd zu Matilda. »Das muss ja eine Lesung gewesen sein!«
Matilda ignorierte sie. »Obgleich ich Mr. Chapel durchaus ... interessant finde, hättest du nicht mit ihm allein sein dürfen. Das ist nicht anständig.«
»Anständig?«, wiederholte Pru stirnrunzelnd. »Ihr drei versucht seit einem halben Jahr, mich praktisch jedem Mann in die Arme zu treiben, der euch über den Weg läuft, und jetzt wollt ihr mir etwas von Anstand erzählen?«
Matilda zuckte mit den Schultern, sah Pru jedoch nicht an. »Die Herren, die wir für dich ausgesucht haben, waren weniger furchteinflößend als Mr. Chapel.«
Furchteinflößend? Nun, Chapel konnte fürwahr ein bisschen einschüchternd sein. Und gelegentlich verärgerte er sie auch mit seiner Art. Vor allem aber tat es ihr gut, wie viel Stärke er ausstrahlte.
»Du sagst, er habe versucht, dich zu küssen. Heißt das, er wollte sich dir aufdrängen?«
Pru klopfte Matilda beschwichtigend aufs Knie, und tatsächlich wurden deren Sorgenfalten flacher. »Ganz und gar nicht. Er war ein perfekter Gentleman.« Jedenfalls größtenteils. Ein wahrhaft perfekter Gentleman hätte es nicht einmal versucht.
»Wie schade!« Georglana seufzte. »Vielleicht ist er doch nicht so gefährlich, wie ich dachte.«
Pru starrte sie an. »Ihr solltet euch einmal entscheiden. Erst seid ihr entrüstet, weil ihr denkt, er wollte sich mir aufdrängen, dann seid ihr enttäuscht, weil er es nicht tat!«
»Du lieber Gott, ich bin gewiss nicht enttäuscht, weil er sich dir nicht aufzwingen wollte«, erwiderte Georgiana übertrieben empört. »Du bist schließlich meine kleine Schwester. Nein, ich bin
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