Unsterbliches Verlangen
ihm vor fünfundvierzig Jahren zur Seite gestellt worden. Damals war er ein junger wissbegieriger Mann gewesen, vollständig erfüllt vom Feuer Gottes. Mittlerweile war sein schwarzes Haar von grauen Strähnen durchwirkt und seine einst jugendliche Erscheinung von Falten gezeichnet. Er war schwerer geworden, ein bisschen kleiner, und dennoch blieb er für Chapel stets der bemüht aufrecht stehende Knabe, der anstarrte, was man ihm als Dämon präsentierte, und auf Gott vertraute, dass er ihn beschützte. Chapel hatte ihn rasch eines Besseren belehrt, indem er seine Reißzähne gebleckt hatte, den jungen zu Boden geworfen und ihn festgehalten hatte, auf dass Molyneux dem Tod hatte ins Auge sehen können.
Molyneux hatte unter ihm gelegen, sein Herz so schnell hämmernd wie die Flügel eines Kolibris, die großen Augen auf Chapel gerichtet. Und dann hatte Chapel gespürt, wie die Spitze eines Holzstabs gegen seine Brust drückte. Der junge war ebenso mutig wie verängstigt gewesen. Vor allem aber hatte er Chapel dazu gebracht, tatsächlich zu glauben, dass Molyneux ihn töten könnte und würde, falls es nötig sein sollte. Dieses Wissen allein sicherte dem jungen Priester Chapels Achtung und gewann letztlich dessen Freundschaft. Diese wiederum machte es aber für Chapel so schmerzlich, Molyneux altern zu sehen. Eines Tages würde er sterben, das taten sie alle, und Chapel würde ihn schrecklich vermissen. Dann käme ein anderer junger Priester, der darauf brannte, sich zu beweisen, der entschlossen war, Chapel den Dämon auszutreiben oder, schlimmer noch, ihn zu beherrschen. Aber einen zweiten Molyneux gäbe es nicht.
Genau wie es keine zweite Pru geben konnte.
Chapel war nun in seinem eigenen Zimmer, beinahe vollständig von dem genesen, was Gift und Sonnenlicht ihm angetan hatten. Und Molyneux kam, um ihm das Neueste über Prus Genesung zu berichten - und dass der Arzt der Familie nicht versuchen würde, sich Chapel einmal anzusehen.
»Wir geht es ihr heute?«, fragte Chapel und schlug seine Decken zurück. Der Raum war verdunkelt, aber er wusste, dass die Sonne draußen gerade unterging. Er fühlte es an der Ruhe, die sich in seinem Innern ausbreitete.
Molyneux ging zum Fenster, zog die Vorhänge auf und ließ den letzten Rest Dämmerlicht herein. Chapel zuckte zusammen, da seine Augen nach wie vor sehr empfindlich waren, doch es schmerzte nicht mehr.
»Mademoiselle Ryland wird sich voraussichtlich wieder vollständig erholen. Wie ich hörte, will sie sich heute zum Abendessen zu uns gesellen.«
Chapel wurde schwer ums Herz. Ob er zum Dinner gehen könnte oder nicht, stand in den Sternen. »Sehe ich vorzeigbar genug fürs Dinner aus?«
Er hatte keine Ahnung, wie er aussah, nur, wie er sich fühlte. Bei seiner hohen Schmerzschwelle war das nicht unbedingt ein verlässlicher Indikator.
Und sich selbst im Spiegel anzusehen war normalerweise das letzte Mittel der Wahl. Er sah höchst ungern hinein, weil die Silbereinlage auf seinen Fluch wirkte und seine Erscheinung auf kaum merkliche, aber dennoch verstörende Weise veränderte. Seit dem Zwischenfall im Keller hatte er nicht mehr hineinsehen wollen.
Der Priester lächelte. »Deine Wangen sind noch ein klein wenig verbrannt, aber ansonsten siehst du männlich und gesund aus.«
Chapel lüpfte eine Braue. »Männlich, ja? Meinst du, die Damen werden dahinschmelzen?«
Molyneux schien verwundert. » Vernehme ich da etwa Humor? Womöglich ist dein Zustand doch besorgniserregender, als ich dachte.«
»So ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht!«, entgegnete Chapel und ging zu dem kleinen Bad. Rosecourt war mit allen modernen Annehmlichkeiten ausgestattet, die man sich denken konnte, und diese wunderbare Wanne war für Chapel das Größte, zumal sie auch noch eine Duschvorrichtung besaß.
»Die Male während des letzten, halben Jahrhunderts, die du scherzhafte Bemerkungen geäußert hast, könnte ich an einer Hand abzählen.«
Chapel blieb in der Badezimmertür stehen. »Nein, wirklich?« War er tatsächlich so ernst und deprimierend?
Molyneux nickte. »Ah, oui .«
»Wie hältst du es dann mit mir aus?«
»Ich bin witzig genug für uns beide.«
Lachend musste Chapel ihm zustimmen.
»Genau genommen«, sagte sein Freund und mied dabei sorgfältig Chapels Blick, indem er sich konzentriert nicht vorhandene Flusen vom Ärmel strich, »bist du nicht mehr derselbe, seit wir in Rosecourt sind. Und diese Veränderung ist höchst ... erfreulich.«
Chapel
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