Unter allen Beeten ist Ruh
gehäkelten Umhängetasche, einem grellblauen Ungetüm von Muttertagsgeschenk, das sie ihrer Tochter Lisa zuliebe ständig benutzte. »Hier. Für dich.«
Pippa nahm den Brief entgegen. Ihre Hand zitterte leicht. Leos schöne, geschwungene Handschrift auf dem Umschlag berührte sie mehr, als sie erwartet hatte. Sie legte den Brief auf den Schreibtisch, ohne ihn zu öffnen.
»Gar nicht neugierig?«, wollte Karin wissen.
»Ach, den lese ich später«, sagte Pippa leichthin und wich dem forschenden Blick ihrer Freundin aus. »Setz dich. Ich freu mich so, dass du hier bist. Endlich wieder ein vertrautes Gesicht.«
»So schlimm?« Karin lachte. »Eigentlich sind doch alle ganz nett. Aber ich habe auch noch nie dauerhaft hier gewohnt. Keine Ahnung, wie es ist, wenn das tagelang die einzigen Menschen sind, die man zu Gesicht bekommt.«
»Nein, nein, das sind wunderbare Leute hier. Luis, Dorabella, die Kästners, Herr X …«
Pippa deutete mit dem Daumen auf die Fensterbank hinter sich, auf der das gläserne X in der Sonne schimmerte. Pippa hatte es mit Wasser gefüllt und zwei Rosenblüten in die Arme gestellt. »Geschenk!«
»Uuuuh …«, raunte Karin mit spitzen Lippen, »da hat aber jemand mächtig Eindruck gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass Herr X jemals ein persönliches X verschenkt hat. Hut ab.«
»Du denkst doch nicht etwa …« Pippa verstummte erschrocken.
»Dass X in dich verknallt ist? Sprich das Unaussprechliche ruhig aus, meine Liebe!«
»Nie im Leben. Er denkt, in mir eine verwandte Seele gefunden zu haben. Eine Künstlerin, die am Rande des Existenzminimums vegetiert – genau wie er selbst. Das ist alles. Verliebt? Niemals!«
»Kann ich mir, ehrlich gesagt, auch nicht vorstellen«, gab Karin zu, »ich habe noch nie eine Frau bei ihm gesehen.« Sie nippte am heißen Tee, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Ah, es ist wunderbar, mal wieder da zu sein. Und dass du hier bist, macht es für mich perfekt. Wenn meine Familie mir zu viel wird, komme ich zu dir und bin in Sicherheit. Ein Traum!«
Sie schwiegen eine Weile und genossen es, nebeneinander auf dem Sofa zu sitzen.
»Hast du Lutz Erdmann schon getroffen?«
Pippa verdrehte die Augen und tat so, als müsste sie würgen. »Was für ein Widerling. Er hat mir die Hand abgeleckt und geschleimt, als wollte er mich in sein Bett quatschen.«
»Rechne mit dem Schlimmsten. Der Kerl ist zu allem fähig«, sagte Karin. »Dabei kalt wie eine Hundeschnauze. Du solltest sehen, wie er mit Angelika Christ umgeht. Für ihn ist sie lediglich Parzelle 6 . Nur merkt sie das leider nicht. Grauenhaft. Die Marthalers bringt er mit seinem Kaufangebot für ihre Parzelle an den Rand der Scheidung. Es gibt auch noch andere Geschichten über ihn. Zum Beispiel über den Tod seines Vaters. Der alte Erdmann war ein Ehrenmann von altem Schrot und Korn. Unbegreiflich, dass so eine Kröte wie Lutz sein Sohn sein soll.«
»Hat er noch Geschwister?«
»Gott bewahre. Mehr von der Sorte würde unsere schöne Mutter Erde nicht verkraften.« Karin sah auf die Uhr. »Ich muss mal rüber. Ich gehe nicht davon aus, dass die Insel-Kinder zur Party eingeladen sind. Oder hast du etwa eine Hüpfburg in seinem Garten gesehen?«
Pippa schüttelte den Kopf. »Keine Clowns, keine Luftballons, keine Hüpfburg.«
»Typisch Lutz. Für den existieren Kinder nicht. Dann müssen Sven und Lisa heute Abend ran und Aufpasser spielen. Ich geh rüber zu Gerdi und kläre, ob die Kinder bei denen oder bei uns schlafen.«
Sie erhob sich vom Sofa und musterte Pippa kritisch. »Was ziehst du denn an?«
»Nichts Besonderes. Irgendwas halt. Und meinen neuen Sonnenhut.« Pippa fischte das Peschmann’sche Wagenrad vom Regal. »Schau mal, diese Hutnadel ist ein Gedicht. Ich werde einfach ein bisschen Gemüse aus dem Garten feststecken und …«
Karin stemmte empört die Hände in die Hüften. »Untersteh dich. Wir machen heute Eindruck. Ich habe jede Menge Flitterkram dabei. In zwei Stunden bin ich wieder hier, und dann schrillen wir uns auf. Da kenne ich keine Gnade.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fegte sie aus der Tür.
Pippa blieb auf dem Sofa zurück. Aus dem Augenwinkel sah sie zu dem Kuvert aus cremefarbenem Bütten hinüber: ihre Adresse mit Tinte geschrieben, sepiafarbene Tinte, die Leo für private Briefe benutzte. Es drängte sie, den Brief zu lesen, aber gleichzeitig hatte sie Angst davor.
Sie stand auf und ging in die Küche, um sich einen Espresso zu machen. Diese
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