Unter allen Beeten ist Ruh
Situation erforderte ein heißes, starkes Getränk.
Mit der winzigen Tasse ging sie zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Zögernd öffnete sie das längliche Kuvert und zog den Briefbogen heraus. Dann schlürfte sie vorsichtig das brühheiße Gebräu, atmete tief durch und las: »Cara mia, bitte komm zu mir zurück. Ich werde mich ändern. Das Haus ist leer ohne Dich. Ti amo, carissima. Ich lege Dir mein Herz zu Füßen … Leo.«
Pippa seufzte. Sie wünschte, Leo würde endlich aufgeben und sie zufrieden lassen. Die Trennung war ihr nicht leichtgefallen, aber sie hatte nun einmal den Wunsch, mit jemandem zu leben, der die Worte des Briefes nicht nur schrieb, sondern auch lebte. Wie viele Geliebte, glaubte Leo, konnte sie noch ertragen?
Sie nahm den Brief, stopfte ihn in den Holzofen und hielt ein brennendes Streichholz daran. Leos Brief verschwand als kleines Rauchwölkchen durch den Schornstein aus Pippas Leben.
Einer nach dem anderen trafen die Partygäste ein. Lutz Erdmann stand am Gartentor und begrüßte jeden einzelnen mit Handschlag. Neben ihm wartete ein Kellner mit einem gefüllten Tablett darauf, die Gäste zu bewirten.
»Hoffentlich gibt es hier auch ein anständiges Bier«, murmelte Stephan Kästner, als er ein filigranes Champagnerglas in die Pranke gedrückt bekam.
Pippa und Karin ließen sich den Champagner schmecken und stießen mit Dorabella an, die in eleganter Abendrobe erschienen war. Ihre weißen Haare waren sorgfältig hochgesteckt, und sie hatte Rouge und Lippenstift aufgetragen.
»Dora, du siehst bezaubernd aus«, sagte Karin, »hast du heute noch ein Rendezvous oder willst du nur Erdmann um den Finger wickeln?«
»Wer weiß …« Dorabella lächelte geheimnisvoll. »Aber ich gebe das Kompliment gern an euch zurück.« Sie deutete auf Pippas Kopfbedeckung und nickte anerkennend. »Sehr apart, meine Liebe. Wunderbar zu deinen Haaren.«
Die Kappe hatte Pippa vor Jahren auf einem Amsterdamer Flohmarkt gefunden. Sie erinnerte an das Hütchen, das Robin Hood in Hollywoodfilmen trug, war aber aus pflaumenfarbenem Samt. Eine verwegene Fasanenfeder, die sie mit ihrer neuen Hutnadel befestigt hatte, ragte wie eine Antenne in die Luft. Dazu trug sie aus der aktuellen Kollektion der Kasulke-Schwestern ein fließendes beerenfarbenes Kleid, das mit kleinen maigrünen Blümchen übersät war.
Als alle Anwesenden mit Getränken versorgt waren, stellte sich Lutz Erdmann auf ein kleines Podest und bat um Ruhe.
»Mein lieben Nachbarn, darf ich um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten?«
Pippa fiel auf, dass Lutz niemanden duzte.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er und deutete auf einige Stühle, die vor dem Podest in Reihen aufgestellt waren. Hinter Lutz war eine Tafel aufgebaut, die mit einem Tuch verhängt war.
»Ich werde Sie – bevor die Party richtig beginnt und das Buffet eröffnet wird – mit einem kleinen Vortrag langweilen, was Sie mir hoffentlich verzeihen werden.« Er lächelte ölig in die Runde. »Ich möchte Ihnen gern erklären, wie ich mir die Zukunft unserer kleinen Insel vorstelle.«
»Hört, hört«, rief eine Stimme, die Pippa nicht identifizieren konnte. Die Partygäste begaben sich langsam zu den Stühlen und suchten sich einen Platz. Pippa sah sich unauffällig um. Nur zwei Personen – abgesehen vom zahlreich präsenten Personal – waren ihr unbekannt: der Anzugträger, den sie mittags mit dem Schnellboot hatte ankommen sehen, und eine aufwendig frisierte Frau um die dreißig, die ein tief dekolletiertes Sommerkleid trug und mit Schafsblick an Erdmanns Lippen hing.
Pippa stieß Karin an und deutete unauffällig auf die Frau.
»Darf ich vorstellen: Parzelle 6. Angelika Christ«, flüsterte Karin, »mit der wird er leichtes Spiel haben.«
Vorn an der Tafel zog Lutz eben mit großer Geste das Tuch herunter und sah sich beifallheischend um. Alle starrten auf ein Bild von Schreberwerder. Die Insel war aus der Vogelperspektive zu sehen, aber völlig verändert. Auf Lutz’ Grundstück stand ein größerer Gebäudekomplex, und es gab viele neue kleine Wege. Alle vorhandenen Häuschen standen noch, aber die individuelle Bepflanzung der Parzellen war einer gleichmäßigen Begrünung gewichen. Über dem Plan stand in großen Lettern: »Hanf-Resort Schreberwerder«, rechts und links des Schriftzugs prangte ein stilisiertes Hanfblatt.
»Warum Hanf – das werden Sie sich jetzt sicher alle fragen«, begann Lutz einen langatmigen Vortrag über die segensreichen
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