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Unter aller Sau

Unter aller Sau

Titel: Unter aller Sau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Limmer
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Schulweg ab, dann brauchst keine Angst haben. Und wenn die Mama wieder da ist, geht sie mit dir.«
    »Kennst du den Weg?«
    »Freilich, den bin ich schon so oft gegangen, da könntest du mir die Augen verbinden und ich würd hinfinden.«
    Jakob zog den Rotz hoch, wischte sich mit der Hand über die Augen.
    »In welche Klasse gehst du denn?«
    Gisela schluckte, versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »In die Parallelklasse.«
    »Bei der Frau Schneider?«
    »Genau.«
    »Die ist streng, gell?«
    »Geht so.«
    Jakob lächelte Gisela an. Unvermittelt nahm er sein Besteck und widmete sich dem Abendessen. Gisela betrachtete ihren Vater von der Seite, seine weißen Haare, die großen Ohren mit den Altersflecken, den faltigen Hals, die Lachfältchen um die Augen und den Mund. Es war ihr Vater und doch war er es nicht mehr. Jakob schnitt ein Stück Leberkäs ab, tauchte es in den Senfklecks, hielt es Gisela hin.
    »Magst?«
    Gisela nickte, biss zu.
    »Gut, was?«
    »Ja.«
    »Wenn der Kramer was kann, dann Leberkäs machen.« Er riss ein Stück Breze ab.
    »Du und der Kramer, ihr seid in dieselbe Klasse gegangen, oder?«, fragte sie.
    »Der Kramer und ich? Geh, woher, der ist doch zehn Jahre jünger wie ich. Wie kommst denn auf so einen Schmarrn?«
    Gisela zuckte mit den Achseln.
    »Hab ich gedacht.«
    »Du wirst auch immer spinnerter.« Jakob lachte noch einmal auf. »Der Kramer und ich. Mit so einem Gscheithaferl möcht keiner in einer Klasse gewesen sein.« Kichernd aß er weiter. »Wenn der damals schon so war wie heute, da magst mich gern haben.«
    Gisela stand auf. »Ich mach die Hühner.« Sie war erleichtert, dass Jakob wieder in der Gegenwart angekommen war, und ihrer bisherigen Erfahrung nach würde sich daran die nächsten Stunden nichts ändern. Hoffentlich.
     
    Im rechtsmedizinischen Institut von München wurde noch am selben Abend Schneewittchens Leichnam obduziert, und kurze Zeit später hatte Lederer das Ergebnis als PDF -Anhang in seinem Postfach. Zufrieden las er, dass seine Analyse vor Ort ins Schwarze getroffen hatte. Schneewittchen war an schweren inneren Blutungen infolge eines Leberrisses gestorben. Die Verletzung war durch mehrere Schläge mit einem harten, länglichen Gegenstand entstanden, der unter anderem auch eine der fliegenden Rippen angeknackst hatte. Andere, länger zurückliegende Verletzungen wie zwei gebrochene Finger, ein zerrissenes Trommelfell im linken Ohr sowie ein Hämatom im hinteren Schädelbereich deuteten darauf hin, dass Schneewittchen des Öfteren innerhalb der letzten sechs bis acht Monate geschlagen worden war. In ihrem Magen befanden sich die Reste von Innereien, möglicherweise einer Wurst, die sie sechs Stunden vor ihrem Tod gegessen hatte, im Blut wurde neben einer recht hohen Dosis Beruhigungsmittel nichts weiter nachgewiesen. Die Lunge war sauber, das Herz gesund und kräftig, die gesamte Körpermuskulatur gut ausgebildet. Ebenso legte der gute Zustand aller anderen Organe die Vermutung nahe, dass Schneewittchen seit ihrer frühesten Kindheit viel Sport getrieben hatte. Ihr Alter wurde auf neunzehn Jahre geschätzt, die kleinen Narben an den Handgelenken waren höchstwahrscheinlich die Folgen zweier Selbstmordversuche, der eine über drei Jahre, der zweite etwa vier Monate her. Das Leben war nicht gut gewesen zu Schneewittchen. Im letzten Absatz des Berichtes wurde noch erwähnt, dass das Wort
Ionel
mit einem glühenden Metallgegenstand in die Haut geritzt worden war. Ionel, das wusste Lederer inzwischen, war ein rumänischer Vorname und bedeutete so viel wie Gottesgeschenk.
    Das Gleiche hatte inzwischen auch Gisela über das Internet herausgefunden. War es der Name ihres Freundes? Aber würden sich junge Frauen so etwas nicht eher eintätowieren lassen? Wieso ein Branding? Oder war es gegen ihren Willen eingebrannt worden? War sie deshalb in den Wald gerannt, war sie auf der Flucht gewesen? Und die Aufmachung. Unwillkürlich musste Gisela an die aufsehenerregenden Fälle von sexuellem Missbrauch denken, bei denen Väter ihre Töchter jahrelang als Sexsklavinnen gehalten hatten. So unangenehm die Vorstellung war, so naheliegend war sie doch. Eine junge Frau im Negligé, auf der Flucht vor ihrem Peiniger an ihren inneren Verletzungen gestorben. Ja, das war gut möglich, das taugte vorerst als Arbeitshypothese, beschloss Gisela.
     
    In allen Zeitungen des Landkreises war am nächsten Tag Schneewittchens Foto abgedruckt. Die Bevölkerung war aufgerufen,

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