Unter aller Sau
Wangen hinunterrannen.
»Geht’s jetzt?«, sagte Gisela.
Köhler nickte. Seine Augen richteten sich erneut auf den Fünfziger. Sie huschten von links nach rechts am Zitat entlang. Noch einmal. Und noch einmal. Er richtete sich auf, versuchte Haltung zu bewahren. »Das … das ist von Theodor Körner. Aus dem Trauerspiel Zriny. Von 1812 .« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, drehte sich um, suchte die Regalreihen ab. »Ich sollte hier irgendwo noch eine Ausgabe haben. Kein Original, natürlich.« Er huschte weg von Gisela und Lederer. Die beiden wechselten einen kurzen Blick. Köhler versuchte, seine Erschütterung zu verbergen, das Zitat ging ihm offensichtlich nahe.
»Herr Köhler, Sie können uns nichts vormachen, Sie haben das geschrieben, oder?« Lederer setzte Köhler nach, bedrängte ihn körperlich. Im Rücken des Buchhändlers ein Regal, daneben die sperrigen Sessel der Sitzecke, vor ihm der finster dreinblickende Hauptkommissar der Mordkommission.
»Nein, das … ich würde so etwas nie auf einen Geldschein schreiben. Das wäre profan.«
»Käuflicher Sex ist auch profan. Die Frau, die umgebracht wurde, war eine rumänische Prostituierte.«
Lederer zückte das Foto der Toten. Köhler wandte schnell den Blick ab. Er würgte.
»Und Ihre Reaktion lässt darauf schließen, dass Sie sowohl den Geldschein mit dem Zitat als auch die Frau wiedererkannt haben.«
»Nein, ich hab die Frau noch nie gesehen.«
»Noch nie gesehen? Das können Sie sagen, obwohl Sie das Foto gar nicht richtig angeschaut haben?«
Gisela verdrehte die Augen. So konnte man mit einem Menschen nicht umgehen. »Herr Kollege …«
Lederers Hand schoss in die Höhe, begleitet von einem stahlharten Blick, der Gisela zum Verstummen brachte.
»Bitte lassen Sie mich.« Leder wandte sich wieder an Köhler.
»Schauen Sie sich das Foto an, und dann sagen Sie mir ins Gesicht, dass Sie diese Frau nie in Ihrem Leben gesehen haben.«
Köhler drehte den Kopf vorsichtig Richtung Foto, wieder würgte er, dann krallte er seine Hand in Lederers Mantel. Das kam so überraschend, dass beide taumelten und in einen Sessel der Sitzecke plumpsten. Köhler war kalkweiß, Schweiß stand ihm im Gesicht, Schmerzen verzerrten es zu einer unheimlichen Fratze. Dann rutschte er auf den Boden. Gisela sprang erschrocken hinzu.
»Herr Köhler!«
Der Buchhändler reagierte nicht auf Giselas Zuruf. Er stöhnte, rollte sich von links nach rechts, eine Hand in die Weste seines Anzugs gekrallt. Gisela wusste, was los war, Köhler hatte einen Herzinfarkt. So war ihre Mutter vor fünf Jahren gestorben, beim Abendessen. Damals hatte Gisela nicht gewusst, was zu tun war. Diesmal schon. Sie packte Köhler unter den Achseln.
»Er muss in die stabile Seitenlage«, sagte Lederer.
»Wir müssen den auf einen Stuhl setzen.«
Sie zerrte mit ganzer Kraft den hyperventilierenden Mann zu einem der Sessel. »Das Blut muss in die Beine sacken.«
Lederer half ihr.
»Rufen Sie den Notarzt, ich mach das schon.«
Lederer zog sein Handy aus der Tasche.
Gisela öffnete Köhlers Hemdknöpfe. »Es dauert nicht lange, gleich kommt Hilfe.«
Der Mann krümmte sich im Sessel, lief Gefahr, vornüberzufallen. Gisela stützte ihn mit einer Hand. »Ich bin da, ich bin da. Hören Sie mich? Herr Köhler?«
Köhler nickte schwach, er zwang seine Augenlider nach oben. Gisela legte eine Hand auf seine. »Das ist gut, alles wird gut.« Seine Atmung beruhigte sich, der Körper entspannte sich. Er blinzelte ein paarmal. Gisela tupfte ihm mit ihrem Jackenärmel den Schweiß vom Gesicht.
»Es … es geht schon wieder«, raunte Köhler mit schwacher Stimme. Er wollte sich im Sessel in eine bequemere Position stemmen, ließ es aber sofort wieder, sein Gesicht schmerzverzerrt.
Gisela legte ihre Hand auf seine Schulter. »Der Arzt wird gleich da sein, so lange bleiben Sie ganz ruhig sitzen, ja?«
Eine halbe Stunde später war Köhler so weit ärztlich versorgt, dass er ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht werden konnte. Gisela hatte seine Mutter verständigt, eine rüstige Rentnerin, die mit ihrem Elektrofahrrad angekommen war. Bei ihrem Anblick hatte Gisela sofort gewusst, dass sie sich um Köhler keine Sorgen mehr machen musste. Das dominante Muttertier hatte zunächst die Sanitäter zusammengeschissen, weil ihr Sohn ohne wärmende Decke im Krankenwagen lag, danach hatte der Notarzt seine Abreibung bekommen, weil er noch vor Ort Fragen an Gisela und Lederer gestellt hatte, die er für
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