Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
den Nachbarn auf dem Gästebett, ertrunken im Ententeich, weil an diesem Nachmittag in dem Gemischtwarenladen in Mazonwe jeder vom anderen geglaubt hatte, er würde sie im Auge behalten. Tante Rena vermutete sie bei mir, und dann war da ja noch Duncan, Renas vierzehnjähriger Sohn, dem Olivia womöglich hinterhergelaufen war, ohne dass jemand es gemerkt hatte. Und wer von uns hätte bei den vielen anderen Dingen, vor denen man sie schützen musste – Landminen, Granatwerfer, Entführer, Überfälle –, auf die Idee kommen sollen, dass ein dreißig Zentimeter tiefer, schlammiger Tümpel hinter dem Laden die größte Gefahr für das kleine Kind an diesem Tag war.
Während ich darauf wartete, dass Mum, Dad und Vanessa aus Umtali zurückkamen, legte ich violette Blumen um Olivias Kopf. Ihre Locken waren auf dem weißen Baumwollbezug des Kopfkissens zu steifen Ringeln getrocknet. Ich hörte die Nachbarshunde bellen, dann bog der Landrover in die Einfahrt. In der sich anschließenden entsetzlichen Stille hörte ich Mum mit eiligen Schritten über die Veranda in den Durchgang zum Gästeschlafzimmer laufen. Sie kam in den Raum gestürzt, ihr ganzes Sein an den kleinen reglosen Körper auf dem Bett geheftet. Sie sank auf die Knie, ich sah, wie sie ihre blassen Lippen auf Olivias blaue Lippen presste und atmete, die Augen geschlossen; ihr kastanienbraunes Haar fiel in Strähnen auf Olivias elfenbeinfarbenes Gesicht. Es sah aus, als wollte sie mit ihrem toten Kind den Atem tauschen. »Meinen für deinen. Nimm mich statt ihrer. Mein Atem für deinen Atem.« Und als Olivias Lippen nicht wieder rosa werden wollten, sank meine Mutter zurück auf die Fersen, das Kinn fiel ihr auf die Brust.
Dad kam zur Tür herein. Er nahm mich hoch und drückte mich an seine Schulter, sein Gesicht eine blickleere Maske. »Du bist so tapfer«, sagte er. »Du musst so tapfer sein.« Hinter ihm, in blankem Unverständnis, stand Vanessa. Ihre Hände hingen schlaff an den Seiten herunter, die Augen standen offen, das Gesicht wirkte äußerst gefasst, abgesehen von zwei silbernen Tränenspuren, die ihr über die Wangen liefen. Als unsere Blicke sich begegneten, schüttelte sie leise und kaum wahrnehmbar den Kopf.
Olivia war in der nassen Jahreszeit gestorben, und wir begruben sie auf dem winzigen, schlammigen Gemeindefriedhof im Dschungel, am Fuß der Vumba-Berge, wo sich Affen durch die Äste der alten Bäume schwangen und lärmende Vögel im Baldachin der Blätter nisteten. Auf ihr Grab setzten wir einen Granitbrocken: OLIVIA JANE FULLER , GEBOREN 28. 8. 76, GESTORBEN 9. 1. 78, UNSERE GELIEBTE TOCHTER UND SCHWESTER . Bei der Trauerfeier, die bei einer Afrikaander-Familie stattfand, deren Haus in der Nähe des Friedhofs stand, sangen wir traurige Country-Songs über Liebe und Verlust und den rechten Zeitpunkt, Abschied zu nehmen, und aßen afrikaanse Speisen: fettes Lammfleisch, Boervors und Koeksisters. Wir trauerten, so wie stoische Menschen trauern: schweigsam, mit feuchten Augen; der unnahbare Tod, das kleine Begräbnis. Und wir sangen noch ein bisschen weiter von harten, schlimmen Zeiten und Wunden, die zu tief sitzen, um je zu heilen.
Elf Tage nach Olivias Tod durch Ertrinken gab die rhodesische Regierung Merkblätter für die Stammesgebiete heraus, auf denen neue Verhaltensvorschriften für Zivilpersonen schwarzer Hautfarbe festgelegt waren:
1. Ausgangssperre für Personen von Sonnenuntergang bis 12 Uhr mittags.
2. Ausgangssperre für Vieh, Ochsengespanne, Ziegen und Schafe von Sonnenuntergang bis 12 Uhr mittags.
3. Fahrzeuge einschließlich Fahrräder und Autobusse dürfen weder in den Stammesgebieten noch in den Native Purchase Areas bewegt werden.
4. Keine Person darf sich höher liegendem Grund nähern oder ihn betreten, oder sie wird erschossen.
5. Hunde müssen 24 Stunden am Tag angeleint sein, oder sie werden erschossen.
6. Nach 12 Uhr dürfen Rindvieh, Schafe und Ziegen nur noch von erwachsenen Personen gehütet werden.
7. Jugendliche (bis zum Alter von 16 Jahren) dürfen sich zu keiner Tages- oder Nachtzeit außerhalb der Kraal-Gebiete aufhalten, oder sie werden erschossen.
8. Alle Schulen bleiben geschlossen.
9. Alle Geschäfte und Mahlbetriebe bleiben geschlossen.
Die neuen Beschränkungen vermochten die wachsende Gewalt in keiner Weise einzudämmen und trieben den Krieg nur noch weiter in den Untergrund, tiefer in uns hinein, als wäre er zu einer eigenständigen Kraft geworden, auf mörderische Weise losgelöst vom
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