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Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Titel: Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fuller
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Menschen, befreit von seinen Urhebern, übermütig, ledig aller Konventionen, die ihm Menschen in einsichtigeren Phasen zwischen kriegerischen Konflikten auferlegt hatten.
    Wenn wir jetzt durch Zamunya fuhren, war die Stadt leer, eine Geisterstadt. Auf den Minenfeldern wurden die Detonationen dafür umso häufiger. Jeden Morgen ritt meine Mutter ihr Pferd zum höchsten Punkt der Farm, das Schießeisen achtlos über die Schulter geworfen (nicht vor den Bauch gehängt, wie sie es sonst immer getan hatte), als legte sie es darauf an, ins Herz geschossen zu werden.
    Es war ihr gleichgültig, ob Vanessas oder meine Aussprache perfekt war. Die Bücher, aus denen Mum uns stundenlang vorgelesen hatte – Rudyard Kipling, Ernest Thompson Seton, C. S. Lewis, Lewis Carroll, Laura Ingalls Wilder –, waren verschwunden. An ihre Stelle war Schweigen getreten. Wenn jetzt der Generator angeworfen wurde, spielte meine Mutter uns keine Schallplatten mit Chopins Nocturnes, Strauss’ Walzern oder Brahms’ Klavierkonzerten mehr vor, und keine Mahlzeit wurde mehr von Mums Trinksprüchen auf unsere Einzigartigkeit unterbrochen: »Auf uns, uns gibt’s nicht zweimal!« Stattdessen durfte das Radio seine trostlosen Nachrichten verkünden – eine Passagiermaschine im Südwesten des Landes von Guerillas abgeschossen, die Überlebenden brutal massakriert; verstärkte Luftangriffe rhodesischer Streitkräfte auf Guerilla-Ausbildungslager in Sambia und Mosambik; die Ermordung ausländischer Missionare durch Gott weiß wen (jede Seite beschuldigte die andere).
    Und dann, am 17. Oktober 1978, kam Umtali mitten in der Nacht wieder unter Artilleriebeschuss, als Guerilla-Streitkräfte von Mosambik aus in das Land eingedrungen waren, ein Ereignis, das umso verwirrender war, als es zeitlich mit einem äußerst heftigen Unwetter zusammenfiel. Wir wurden in unserem Internat von den Hausmüttern geweckt, die sich bemühten, trotz des Heulens der Granaten und rollender Donnerschläge Ruhe zu bewahren: »Das ist keine Übung! Keine Übung!« Sie warfen uns aus den Betten, trieben uns durch die Notausgänge, um uns in der Eingangshalle auf den Boden zu stoßen und die Matratzen mit solch überstürzter Panik auf uns zu werfen, dass Kinne und Ellenbogen auf Beton knallten. »Die Köpfe runter!«, riefen die Hausmütter. »Absolute Ruhe! Die Mäuler halten!«
    Miss Carr rief die Namen auf, als hinge unser Leben davon ab, und die Kinder brüllten die Antwort, als könnte es sie davor bewahren, in den Himmel hinaufgesprengt zu werden. »Browne, Ann!« »Coetzee, Jane!« »Dean, Lynn!« »De Kock, Annette!« Manche Kinder schrien nach ihren Eltern, andere beteten laut, riefen Gottes Namen, die Hausmütter und Lehrerinnen befahlen uns, die Mäuler zu halten, und die ganze Zeit über heulten die Granaten und ein Donnerschlag jagte den nächsten. Und durch diesen ohrenbetäubenden Lärm hindurch schallte laut und deutlich die Stimme meiner Schwester vom anderen Ende des provisorischen Luftschutzbunkers zu mir herüber: »Bobo! Bobo! Bobo!«, und sie hörte nicht auf, bis ich zurückrief: »Van, ich bin hier! Alles okay! Ich bin ja da!
    Dann erst gab sie Ruhe unter ihrer überfüllten Matratze und ich unter meiner, aber von den Mutarandanda-Bergen vor Umtali hagelte es weiter Granaten auf die Stadt herunter. Ich stellte mir vor, dass Vanessa und ich auf diese Weise ums Leben kamen, als gerechte Strafe dafür, zugelassen zu haben, dass Olivia vor uns gestorben war. Und plötzlich begriff ich, dass Olivias Tod der Grund für das Verstummen meines Vaters war und dafür, dass meine Mutter sich so weit von uns zurückgezogen hatte und uns wie eine Gestalt am Ende eines umgedrehten Fernrohrs erschien, vertraut und doch unerreichbar fern.
    Der Angriff war vorüber, und allen Naturgesetzen zum Trotz waren wir am Leben. Die Hausmütter kamen zurück und befreiten uns von den Matratzen über unseren Köpfen. Die Jungen zwängten sich im Junior-Boys-Schlafsaal zusammen, die Mädchen wurden wie die Ölsardinen Kopf an Fuß in den Senior-Boys-Schlafsaal gelegt. Ein paar von uns schliefen sogar, doch kurz vor Morgengrauen war in den Bergen schon wieder Artilleriefeuer zu hören, und wir befreiten uns voneinander, entwirrten unsere Beine, trennten ineinander verklammerte Hände. »In Deckung!«, schrien wir, rempelten uns gegenseitig wach und tauchten unter die Betten, bis Miss Carr hereinkam. »Alles in Ordnung, alles in Ordnung. Das sind unsere Jungs. Sie beschützen euch.

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