Unter dem Feuer - Silvanubis #1 (German Edition)
einzuatmen. Vergeblich. Luft, sie brauchte Luft. Kein Hauch war zu spüren. Totale Stille, Vakuum, absolute Leere. Dort! Etwas Rotes, Leuchtendes schien sich hinter der Nebelwand auf und ab zu bewegen, zu schweben, zu fliegen. Der Phönix? War er doch hier? Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Das Wasser lief ihr gurgelnd in die Ohren. Prustend gelang es ihr, sich hochzustemmen. Sie griff fester zu, Edmunds Hand hielt ihre Rechte und Alexanders ihre Linke. Vorwärts, immer weiter. Plötzlich spürte sie einen leichten Ruck an ihrer linken Hand. Falsch, das war die falsche Richtung, Alexander. Edmund machte einen Schritt nach vorn und Alexander … Alexander bewegte sich nach hinten, wurde nach hinten gerissen. Ihre Hand krallte sich in seine. Falsche Richtung, Alex! Sie hörte ihn rufen, konnte ihn nicht verstehen. Einen Schritt noch, Alexander. Noch ein Ruck, Edmund riss sie in die eine, Alexander in die andere Richtung. Du hast es versprochen, Alex. Ich bin bei dir … Alexanders Hand öffnete sich, entglitt, verschwand.
Kapitel 20
Ankommen
D ie zarten Knospen hatten sich zu hellgrünen Blättern entfaltet. In den vergangenen drei Wochen war der Wald erwachsen geworden, noch lange nicht so vollkommen wie sein Zwilling in Silvanubis, doch das Maigrün zierte die Pflanzen geradezu prahlerisch. Mit geschlossenen Augen ließ sie den süßlichen Duft an sich vorüberziehen. Anna rieb sich kräftig durchs Gesicht und grub ihre Hände in den kühlen Waldboden. Obwohl der Nebel fort und die Luft rein und würzig war, fühlte sie sich ein wenig benommen und schwindlig. Sie hatte es geschafft und sich im feuchten Laub wiedergefunden. Beinahe empfand sie so etwas wie Stolz. Es war ihr gelungen, die Passage zu durchschreiten und Silvanubis hinter sich zu lassen. Müde lehnte sie sich an einen glatten, warmen Baumstamm und atmete tief durch. Der Nebel hatte sich genau in dem Moment aufgelöst, als gelbe Blitze vor ihren Augen zu tanzen begannen, als alle Luft verbraucht war. Hin und wieder hatte sie einen schwachen roten Schatten inmitten der weißen Wolke erblickt, meinte hinter der Nebelwand etwas auf- und abfliegen zu sehen. Doch niemals war es nahe genug gewesen, als dass sie es genau hätte erkennen können. Wenn es der Phönix gewesen war, der versucht hatte, sie hinüberzugeleiten, so war es ihm nicht gelungen, sich durch den weißen Schleier zu ihr hindurchzuschieben. Oder sie sich zu ihm. Nie und nimmer wäre sie allein und ohne Hilfe wieder hier gelandet. Aber egal, Edmund und Alexander hatten sie ebenso sicher hierher geführt. Nun würde sie nach Hause gehen. Mindestens zwei Monate würde sie hierbleiben müssen. Zeit genug, sich zu überlegen, ob sie zu ihren neuen Freunden zurückkehren, alles zurücklassen und in Silvanubis ein neues Leben beginnen wollte. Nach Hause. Sie hämmerte sich die Worte wieder und wieder in den Kopf. Vielleicht wartete Peter ja dort auf sie. Nach Hause. Warum nur hatten die Worte einen derart faden Beigeschmack? Anna seufzte. Seit der Bombennacht gab es so etwas nicht mehr. Alexander konnte sich auf den Heimweg machen, seiner Mutter und Schwester die Sorge um ihn nehmen, und Edmund konnte sich dann entscheiden, wo er solange wohnen wollte, bis er zumindest Alexander wieder zurückbegleiten würde.
Alexander … Ein ungutes Gefühl nistete sich in ihrem Magen ein, irgendetwas stimmte nicht. Als der Nebel am dichtesten war, wollte er plötzlich nicht mehr weiter. Sie hatte seine Hand nicht loslassen wollen, hatte versucht ihn hinter sich herzuziehen, vergeblich. Keinen Schritt wollte er mehr nach vorn setzen. Schließlich hatte sie seine Hand verloren. Wie ein Blitz traf sie die Erkenntnis. Es war allein Edmund, der sie hinübergeführt hatte. Hinübergezogen hatte. Ihr war noch immer kalt und sie war nass. Klitschnass. Der See, das Wasser … Anna sah sich um. Zwischen den Bäumen schimmerte türkisblaues Wasser. Sie drehte den Kopf von links nach rechts, von Alexander war weit und breit keine Spur zu sehen. Anna zwang sich, langsam ein- und auszuatmen und die aufkeimende Panik hinunterzuwürgen.
Sie blickte über ihre Schulter. Edmund! Gott sei Dank! Schräg hinter ihr hockte er auf dem Boden und beugte sich über eine leblose Gestalt, schüttelte sie kräftig. Alexander! Vielleicht hatte sie ihn doch nicht verloren. Mit Mühe gelang es ihr, sich in die Höhe zu stemmen. Zumindest war sie bei Bewusstsein. Auch dieses Mal hatte ihr der Nebel zugesetzt. Sie zwang sich,
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